Zur ältesten arabischen Algebra und Rechenkunst.
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Wenn die Erbteilungsrechnungen wirklich durch und durch
arabisch wären und ganz und gar auf dem Koran beruhten, so
mühte man den Gang der Entwicklung von den zu Muhammad
b. Müsäs Zeit begründeten Rechtsschulen (Abü Hanifah starb
im Jahr 767, Mälik b. Anas um 795, Muhammad al-Säfi'i um
820, Ahmad b. Hanbal 855) zu den Aufgaben der Algebra ver-
folgen können. In Wahrheit liefert das Erbrecht nur den Rohstoff
für die Aufgaben, und ob die Technik der Rechnung arabisch ist
oder nicht, muß erst untersucht werden. Wenn wir uns erinnern,
daß auch die römischen Juristen schon ihre Freude an verzwickten
Erbfällen hatten und sie durch praktische Rechenkunst oder salo-
monische Weisheit zu entscheiden suchten (Cantor I3, S. 561), so
werden uns berechtigte Zweifel an der Originalität der arabischen
Behandlung der Aufgaben aufsteigen, und wenn wir finden, daß es
sich vielfach um Auflösungen von Gleichungen ersten Grades mit
Hilfe von Ausgleichung und Ergänzung handelt, so können wir
jetzt ohne Zaudern griechische Vorbilder annehmen.
Man wird nicht daran zweifeln können, daß in den Kreisen
der Steuerbeamten, der Notare, der Vermessungsbeamten, der Kauf-
leute und Bankiers für alle in den regelrechten Geschäftsgang ein-
schlagenden Aufgaben eine feste Überlieferung bestand, die den
Anwärtern und Schreibern ebenso beigebracht wurde, wie es heut-
zutage in den Amtsstuben und Kontoren geschieht. Aus diesen
Kreisen mögen die ersten Anregungen zur Aufzeichnung und Aus-
arbeitung von Musterbeispielen gekommen sein, und nichts anderes
als eine solche Sammlung von Vorschriften und Beispielen für den
allgemeinen Gebrauch, mit genauer Anweisung für die Durchführung
der Rechnungen, will Muhammad b. Müs äs Buch vorstellen.
Das Fehlen wirklich aus dem Leben gegriffener Aufgaben im ersten
Teil der Algebra, also im Bereich der quadratischen Gleichungen,
die Armseligkeit der Beispiele in dem Kapitel von den Geschäften,
der schematische Charakter vieler Beispiele in andern Teilen des
Buches deutet auf den Mangel einer durch gebildeten Übungs- und
Schulliteratur, wie wir sie heute in den Werken und Aufgaben-
sammlungen über kaufmännische Arithmetik, über die Regel detri
u. dergh besitzen; die quadratischen Gleichungen, die bisher als
Hauptstück und Hauptzweck der „Algebra“ galten, erscheinen jetzt
mehr als prunkvolle Fassade und gelehrte Zutat, oder wenn man
will auch als Beginn des Übergangs zu den rein wissenschaftlichen,
spekulativen Fragen und Interessen der Mathematik.
Sitzungsberichte der Heidelb. Akademie, phil.-hist. Kl. 1917. 2. Abh.
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Wenn die Erbteilungsrechnungen wirklich durch und durch
arabisch wären und ganz und gar auf dem Koran beruhten, so
mühte man den Gang der Entwicklung von den zu Muhammad
b. Müsäs Zeit begründeten Rechtsschulen (Abü Hanifah starb
im Jahr 767, Mälik b. Anas um 795, Muhammad al-Säfi'i um
820, Ahmad b. Hanbal 855) zu den Aufgaben der Algebra ver-
folgen können. In Wahrheit liefert das Erbrecht nur den Rohstoff
für die Aufgaben, und ob die Technik der Rechnung arabisch ist
oder nicht, muß erst untersucht werden. Wenn wir uns erinnern,
daß auch die römischen Juristen schon ihre Freude an verzwickten
Erbfällen hatten und sie durch praktische Rechenkunst oder salo-
monische Weisheit zu entscheiden suchten (Cantor I3, S. 561), so
werden uns berechtigte Zweifel an der Originalität der arabischen
Behandlung der Aufgaben aufsteigen, und wenn wir finden, daß es
sich vielfach um Auflösungen von Gleichungen ersten Grades mit
Hilfe von Ausgleichung und Ergänzung handelt, so können wir
jetzt ohne Zaudern griechische Vorbilder annehmen.
Man wird nicht daran zweifeln können, daß in den Kreisen
der Steuerbeamten, der Notare, der Vermessungsbeamten, der Kauf-
leute und Bankiers für alle in den regelrechten Geschäftsgang ein-
schlagenden Aufgaben eine feste Überlieferung bestand, die den
Anwärtern und Schreibern ebenso beigebracht wurde, wie es heut-
zutage in den Amtsstuben und Kontoren geschieht. Aus diesen
Kreisen mögen die ersten Anregungen zur Aufzeichnung und Aus-
arbeitung von Musterbeispielen gekommen sein, und nichts anderes
als eine solche Sammlung von Vorschriften und Beispielen für den
allgemeinen Gebrauch, mit genauer Anweisung für die Durchführung
der Rechnungen, will Muhammad b. Müs äs Buch vorstellen.
Das Fehlen wirklich aus dem Leben gegriffener Aufgaben im ersten
Teil der Algebra, also im Bereich der quadratischen Gleichungen,
die Armseligkeit der Beispiele in dem Kapitel von den Geschäften,
der schematische Charakter vieler Beispiele in andern Teilen des
Buches deutet auf den Mangel einer durch gebildeten Übungs- und
Schulliteratur, wie wir sie heute in den Werken und Aufgaben-
sammlungen über kaufmännische Arithmetik, über die Regel detri
u. dergh besitzen; die quadratischen Gleichungen, die bisher als
Hauptstück und Hauptzweck der „Algebra“ galten, erscheinen jetzt
mehr als prunkvolle Fassade und gelehrte Zutat, oder wenn man
will auch als Beginn des Übergangs zu den rein wissenschaftlichen,
spekulativen Fragen und Interessen der Mathematik.
Sitzungsberichte der Heidelb. Akademie, phil.-hist. Kl. 1917. 2. Abh.
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