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Rosenzweig, Franz; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1917, 5. Abhandlung): Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus: ein handschriftlicher Fund — Heidelberg, 1917

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https://doi.org/10.11588/diglit.37638#0008
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Franz Rosenzweig:

III,
Der mit dem Werden des deutschen Idealismus vertraute
Leser wird das mitgeteilte Blatt nicht ohne Erregung gelesen
haben. Daß die Bezeichnung des Katalogs irrig sein müsse, daß
es sich nicht um eine „Abhandlung über Ethik“, sondern um ein
vollständiges Systemprogramm handle, wird keiner Erörterung
bedürfen; schuld an dem Irrtum sind die zwei ersten Worte, die
— unglücklicherweise unterstrichen — für eine Überschrift ge-
nommen wurden, während sie in Wirklichkeit den Schluß eines
auf dem verlorenen vorhergehenden Blatt beginnenden Satzes
bilden. Ein Systemprogramm von Hegels Hand also läge uns vor
aus der Zeit drei oder mindestens zwei Jahre vor dem Werke,
das bisher, übrigens nicht ganz mit Recht, als der erste systema-
tische Versuch der idealistischen Bewegung, in gewissem Sinn der
erste Versuch in der Philosophiegeschichte überhaupt, die ganze
philosophische Welt zwischen die Deckel eines Buches zu bannen,
gegolten hatte, Schellings „transcendentalem Idealismus“; drei
oder vier Jahre vor Hegels eigenem ersten Versuch in dieser Rich-
tung, dem von Ehrenberg herausgegebenen ersten Jenenser
System. Was scheint unser Manuskript nicht alles an Zukunft
zu umschließen: schon der flüchtige Blick gewahrt die Fichtesche
Erzeugung des Seins im Ich, eine spekulative Physik, wie sie der
junge Schelling bald entwarf, eine revolutionäre Staatslehre, eine
idealistisch-aufklärerische Geschichtsphilosophie, die Kunstlehre
des „Systems des transzendentalen Idealismus“, eine Philosophie
der Mythologie •— fast wird man irre daran, daß das von Hegel
stammen sollte, von dem Hegel, dessen Jugendgeschichte wir zu
kennen meinten, der auf verschlungenen Eigenwegen durch
historische Untersuchungen hindurch sich langsam Ende 1800 an
die Schwelle des eigenen Systems gearbeitet zu haben schien, —
und der nun soviel spätere, und gar nicht in seiner eigenen, sondern
weit eher in Schellings Philosophie entwickelte Gedanken vorweg
genommen hätte, daß man gar nicht begreift, wie er in den kommen-
den Jahren so alles andere getan haben sollte, als das was er hier
ankündigt. Und ist das der in Bern mißmutig und schwermütig
gewordene Hegel, den die treuen Freunde vergeblich zum Selbst-
vertrauen aufzuwecken suchten, den die Angehörigen daheim ver-
ändert fanden, ist das derselbe, der hier mit der Geste des sieges-
gewissen Eroberers sein Reich antritt, der mit dem stolzen „ich
werde“ alten Wissenschaften „Flügel geben“ möchte, der von
 
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