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Rosenzweig, Franz; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1917, 5. Abhandlung): Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus: ein handschriftlicher Fund — Heidelberg, 1917

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https://doi.org/10.11588/diglit.37638#0030
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30

Franz Rosenzweig:

„i'sts, was wir bedürfen. Zuerst werde ich hier von einer Idee
„sprechen, die, soviel ich weiß, noch in keines Menschen Sinn ge-
kommen ist: Wir müssen eine neue Mythologie haben, diese
„Mythologie aber muß im Dienste der Ideen stehen, sie muß eine
„Mythologie der Vernunft werden.
„Ehe wir die Ideen ästhetisch d. h. mythologisch machen,
„haben sie für das Volk kein Interesse und umgekehrt ehe die
„Mythologie vernünftig ist, muß sich der Philosoph ihrer schämen.
,,So müssen endlich Aufgeklärte und Unaufgeklärte sich die Hand
„reichen, die Mythologie muß philosophisch werden und das Volk
„vernünftig, und die Philosophie muß mythologisch werden, um
„die Philosophen sinnlich zu machen. Dann herrscht ewige Ein-
„heit unter uns. Nimmer der verachtende Blick, nimmer das
„blinde Zittern des Volks vor seinen Weisen und Priestern. Dann
„erst erwartet uns gleiche Ausbildung aller Kräfte, des Einzelnen
„sowohl als aller Individuen. Keine Kraft wird mehr unterdrückt
„werden, dann herrscht allgemeine Freiheit und Gleichheit der
„Geister! — Ein höherer Geist vom Himmel gesandt muß diese
„neue Religion unter uns stiften, sie wird das letzte, größte Werk
„der Menschheit sein.
* *
*
V.
Das bisher Ausgeführte möchte vielleicht hinreichen, um im
folgenden die Vermutung der Schellingschen Verfasserschaft des
Mitte 96 von Hegel niedergeschriebenen Textes als genügend
wahrscheinlich voraussetzen zu dürfen. Wenn der Leser mir dies
gestattet, so wäre es nun Zeit, die Frage aufzuwerfen, wann und
etwa auch in welcher äußeren Form Schelling das Systemprogramm
verfaßt haben könnte und wie es an Hegel gekommen sein möchte.
Befragen wir zunächst den Text selber. Er ist uns als Frag-
ment überliefert; wenigstens ist etwas vorausgegangen; dagegen
folgt nichts mehr: wir haben den Schluß des Manuskriptes. Der
Text ist in der Ichform gehalten und an eine Mehrheit von Hörern
oder Lesern gerichtet, die mit „ihr“ angeredet, dem Verfasser
also wohl befreundet sind. Die Möglichkeit, daß es sich um ein
Brieffragment, und dann eines Briefes an mehrere Freunde gleich-
zeitig, handelt, ist nicht ganz auszuschalten, obwohl alles speziell
Briefartige, vor allem Unterschrift und dergleichen, fehlt: es könnte,
 
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