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Franz Rosenzweig:
meint, die Staatswissenschaft sein kann, scheint mir sicher. Der
Staat liegt für den damaligen Schelling schwerlich — das würde
ganz aus der Zeit herausfallen — jenseits des Naturrechts; der
Ort des Staats wird vielmehr innerhalb dieses Naturrechts von
1796 bezeichnet durch die Schilderung, wie das Recht Zwang wird.
Nur als das „höchste Ziel . . . worauf alle Staatsverfassungen
hin wirken müssen“ hatte er in der Schrift vom Ich dies in Platons
Utopie gleichfalls angestrebte „Aufhören alles Zwangs“ bezeichnet.
Dieses „höchste Ziel“' aber bezeichnet der geschichtsphilosophische
Jünger Kants nicht mehr, wie es noch vor einem Jahre die Schrift
vom Ich an der Stelle über Platon vielleicht gemeint hatte, als
eine Verfassung, sondern als einen „Zustand“; es ist ganz offenbar
der Endzustand der Geschichte, von Kants weltbürgerlicher Ver-
fassung doch wohl auch schon in der Schrift „Vom Ich“ unter-
schieden dadurch, daß alle Staatsverfassungen nur auf ihn „hin-
wirken“ können, indes er selber jenseits alles ja stets in Zwang
umschlagenden Rechts gelegen ist.
Der Kantische Endzustand der Geschichte, die weltbürger-
liche Verfassung eines Staatenbundes also mit dem Zwecke eines
ewigen Friedens darf dem damaligen schroff individualistischen
Schelling, der alle „Ethik“, alle Gemeinschaftssittlichkeit, nur als
ein Mittel zur „Moral“ erkennen will, ebenfalls nur als eine wenn
auch notwendige Unterlage der unbedingten Freiheit eines „indivi-
duellen Wesens“, der „Selbstheit aller Individuen“ gelten.
Vorbereitet aber wird, so versichert schon die Vorrede zum
„Ich“, jene „große Periode der Menschheit“ durch das Arbeiten
an der „Vollendung der Wissenschaften“. „Denn alle Ideen müssen
sich zuvor im Gebiete des Wissens realisiert haben, ehe sie sich
in der Geschichte realisieren“. Darum ist es Zeit zu jenem „kühnen
Wagstück der Vernunft, die Menschheit freizulassen, und den
Schrecken der objektiven Welt zu entziehen“; die Kantische
Philosophie muß aus der Unterwürfigkeit unter das Dogma be-
freit werden, in die sie die „philosophischen Halbmänner“ (an
Hegel 21. VII. 95), die theologisierenden Kantianer wieder zu
bringen drohen, hei denen „Ignoranz, Aberglaube und Schwärmerei
allmählich die Maske der Moralität und, was noch gefährlicher ist,
der Aufklärung angenommen“ haben. „Es ist Zeit“, rufen die
Philosophischen Briefe aus, „daß die Scheidung vorgehe, daß wir
keinen heimlichen Feind mehr in unserer Mitte“ — d. h. in der
Philosophie selber — „nähren, der, indem er hier die Waffe nieder-
Franz Rosenzweig:
meint, die Staatswissenschaft sein kann, scheint mir sicher. Der
Staat liegt für den damaligen Schelling schwerlich — das würde
ganz aus der Zeit herausfallen — jenseits des Naturrechts; der
Ort des Staats wird vielmehr innerhalb dieses Naturrechts von
1796 bezeichnet durch die Schilderung, wie das Recht Zwang wird.
Nur als das „höchste Ziel . . . worauf alle Staatsverfassungen
hin wirken müssen“ hatte er in der Schrift vom Ich dies in Platons
Utopie gleichfalls angestrebte „Aufhören alles Zwangs“ bezeichnet.
Dieses „höchste Ziel“' aber bezeichnet der geschichtsphilosophische
Jünger Kants nicht mehr, wie es noch vor einem Jahre die Schrift
vom Ich an der Stelle über Platon vielleicht gemeint hatte, als
eine Verfassung, sondern als einen „Zustand“; es ist ganz offenbar
der Endzustand der Geschichte, von Kants weltbürgerlicher Ver-
fassung doch wohl auch schon in der Schrift „Vom Ich“ unter-
schieden dadurch, daß alle Staatsverfassungen nur auf ihn „hin-
wirken“ können, indes er selber jenseits alles ja stets in Zwang
umschlagenden Rechts gelegen ist.
Der Kantische Endzustand der Geschichte, die weltbürger-
liche Verfassung eines Staatenbundes also mit dem Zwecke eines
ewigen Friedens darf dem damaligen schroff individualistischen
Schelling, der alle „Ethik“, alle Gemeinschaftssittlichkeit, nur als
ein Mittel zur „Moral“ erkennen will, ebenfalls nur als eine wenn
auch notwendige Unterlage der unbedingten Freiheit eines „indivi-
duellen Wesens“, der „Selbstheit aller Individuen“ gelten.
Vorbereitet aber wird, so versichert schon die Vorrede zum
„Ich“, jene „große Periode der Menschheit“ durch das Arbeiten
an der „Vollendung der Wissenschaften“. „Denn alle Ideen müssen
sich zuvor im Gebiete des Wissens realisiert haben, ehe sie sich
in der Geschichte realisieren“. Darum ist es Zeit zu jenem „kühnen
Wagstück der Vernunft, die Menschheit freizulassen, und den
Schrecken der objektiven Welt zu entziehen“; die Kantische
Philosophie muß aus der Unterwürfigkeit unter das Dogma be-
freit werden, in die sie die „philosophischen Halbmänner“ (an
Hegel 21. VII. 95), die theologisierenden Kantianer wieder zu
bringen drohen, hei denen „Ignoranz, Aberglaube und Schwärmerei
allmählich die Maske der Moralität und, was noch gefährlicher ist,
der Aufklärung angenommen“ haben. „Es ist Zeit“, rufen die
Philosophischen Briefe aus, „daß die Scheidung vorgehe, daß wir
keinen heimlichen Feind mehr in unserer Mitte“ — d. h. in der
Philosophie selber — „nähren, der, indem er hier die Waffe nieder-