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Rosenzweig, Franz; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1917, 5. Abhandlung): Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus: ein handschriftlicher Fund — Heidelberg, 1917

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https://doi.org/10.11588/diglit.37638#0046
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46

Franz Rosenzweig:

konnten Vorstellungen Raum gewinnen, wie die, daß der Philo-
sophie nichts andres obliege als die „Ergebnisse der Einzelwissen-
schaften“ zusammenzufassen; selbst den Ruf „zurück zu Kant“,
der beim Sturze des Hegelschen Systems laut wurde, begleiteten
Versicherungen, daß es gelte, durch kritische Besinnung hindurch
in Zukunft einmal zu einem neuen besser gesicherten System zu
gelangen; und erst seitdem pflegt auch die philosophische Einzel-
untersuchung ihre eigene Berechtigung darin zu sehen, daß sie
irgendwie, sei es auch noch so entfernt, das zukünftige System
„vorbereite“; ja, es erheben sich Zweifel, ob überhaupt Einzel-
untersuchungen als solche in der Philosophie wissenschaftlich zu-
lässig seien. Die ganze diesen verschiedenen Ansichten zugrunde-
liegende Vorstellung vom System als der Aufgabe der Philosophie
ist nun wie gesagt keine Selbstverständlichkeit, sondern eine Ent-
deckung des deutschen Idealismus. Erst hier hat der Gedanke
Gestalt gewonnen, welcher der ersten Anlage nach in jenem
kurzen Satz verborgen ist, der am Anfang der abendländischen
Geistesgeschichte steht: daß „alles“ Wasser „ist“. Die Einheit
des gesamten Seins nicht etwa bloß auszusprechen, sondern sie
irgendwie durch Verknüpfung mit dem Seienden zu bestimmen,
ist seitdem Aufgabe aller Philosophie geblieben. Aber auch die
großen antiken Denker, die man wohl als die Systematiker der
Antike den deutschen Idealisten verglichen hat, sind Systematiker
keineswegs in dem Sinn, den das Wort seit 100 Jahren hat. Denn
es ist ihnen nicht beigekommen, daß vom letzten Wahren ein Weg
führen müßte zum Verständnis der Totalität des Wirklichen; es
fehlt ihnen ganz, um den spezifisch modernen (d. h. deutsch-
idealistischen) Begriff einmal seinem ursprünglichen Sinne nach
anzuwenden, der Gedanke daß die Philosophie „Weltanschauung“
sein müsse. Weltanschauung — das ist eben die grundsätzlich ins
Einzelne durchgeführte Einheit von Wahrheit und Wirklichkeit.
Nie hat Platon den Gedanken des Systems in diesem Sinne auch
nur angerührt, nie ist ihm eingefallen, daß das Verhältnis von Idee
und Wirklichkeit, wie es selber nur eines ist, so auch in einem ein-
heitlichen Bilde der Wirklichkeit philosophisch durchgeführt wer-
den müßte; immer sind dem Denker in ihm die Realitäten nur der
Ausgangspunkt, um zum Letzten vorzustoßen. Ebensowenig hat
Aristoteles etwas derartiges ausgeführt; das empirische Neben-
einander, in welchem bei ihm Erkenntnis der Dinge und höchste
metaphysische Intuition stehen, hat man oft bemerkt; es ist nur
 
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