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Rosenzweig, Franz; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1917, 5. Abhandlung): Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus: ein handschriftlicher Fund — Heidelberg, 1917

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https://doi.org/10.11588/diglit.37638#0047
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Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus.

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das Symptom dafür, daß er den Grundgedanken seiner Philoso-
phie, der wirklich durchaus „systematisch“ war, selber zu ver-
wirklichen gar nicht gesucht hat. Er so wenig wie die von ihm
ausgehende Scholastik; die Methode der ,,Quästionen“ läßt den
Zweifel gar nicht aufsteigen, ob denn die Einzelfrage wirklich als
solche lösbar sei. Die Abhängigkeit vom antiken Denken war
gerade hier so verhängnisvoll, weil dadurch die im Gedanken
einer christlichen Philosophie geforderte einheitliche Durch-
dringung der wirklichen Welt erstickt wurde. So ist zuletzt die
in Descartes gipfelnde Bewegung des philosophischen Humanis-
mus, die wahrlich noch weniger „Renaissance“ war als irgend eine
andere der gleichzeitigen Bewegungen, hier notwendig gewesen,
um erst einmal die Philosophie auf ihre eigenen Füße zu stellen
und so überhaupt die Möglichkeit einer einheitlichen Weltkonstruk-
tion erst zu eröffnen. Unmittelbar danach und im Gefolge der
Descartischen Anregung ist der erste Versuch gemacht worden,
ein der Absicht nach von allen, sei es außerphilosophischen,
sei es philosophiegeschichtlichen Voraussetzungen gelöstes aus
Einer Wurzel hervorwachsendes Bild der Einen Welt zu ent-
werfen.
Ein Gegenstück zu Spinozas Ethik hat Schelling, der inner-
halb der idealistischen Bewegung den Gedanken des Systems als
erster faßte, aufzustellen gedacht. Aus dem Begriff der absoluten
Tat den ganzen philosophischen Kosmos entstehen zu lassen wie
Spinoza aus dem Begriff des absoluten Seins, war die Meinung.
Kant sowohl wie Fichte waren notwendige Voraussetzungen dieses
Gedankens. Erst Kant hatte, indem er die Descartische Frage nach
dem Prinzip der Philosophie und die Frage nach dem Prinzip der
Erfahrung aufeinanderbezog, den unlöslichen Zusammenhang von
Form und Inhalt der Erkenntnis gestiftet, aus dem der System-
begriff hervorgehen mußte. Daß es nicht gleich geschah, dafür
lag der Grund darin, daß Kant selber nicht zum vollkommenen
Bewußtsein dieser seiner Tat vordrang; er selber hat geglaubt,
ihr Wesen bestehe darin, daß er die Frage nach den „Grenzen“
— nicht nach dem Prinzip — der Philosophie mit der Frage nach
dem Prinzip der Erfahrung gleichsetzte und jene aus dieser beant-
wortete. Diese Unklarheit, deren Denkmal seine „Dialektik der
reinen Vernunft“ ist, mußte deshalb zunächst zerstört werden
und es ist das in Fichtes Wissenschaftslehre mündende Werk des
alten Kantianismus, dies geleistet und damit den in Kant angelegten
 
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