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Otto Immisch:
μης). Was aber den Wahrheitsgehalt angeht, so eignet er natür-
lich vollständig nur der επιστήμη. Die δόξα umfaßt Wahres und
Falsches1. Von der αΙσΦησις aber heißt es, mehr entsprechend
den όροι und viel nachsichtiger als beim Anonymus: άλη-θ-ές
μέν, ούχ ουτω δέ ώς τό διά του επιστημονικού λόγου. Ηεινζε
bemerkt zwar mit Recht (und es folgt das schon aus dem
über das Mischgebilde δόξα Gesagten), gegenüber der επιστήμη
habe die α’ίσΕησις auch schlechthin als ψευδής bezeichnet werden
können. Aber geschehen ist es nun einmal in den grundlegenden
Sätzen nicht, die Tendenz zu einer etwas höheren Wertung der
sinnlichen Wahrnehmung war also auch bei Xenocrates2 vorhan-
den, und zwar im Gegensatz zu Platon (und „Pythagoras“; vgl.
Aetius 396, 12). Schwerlich ist indessen die abweichende, schroffe
Ausdrucksweise des Anonymus nur auf eine allzu peremptorische
Fassung der Worte durch Photius zurückzuführen, obgleich die
schlechthin verwerfende Haltung für unseren Mann auch in seiner
Eigenschaft als Peripatetiker auffällig ist (bei dem von Schwartz
und Leopoldi angenommenen Epikureismus wäre sie völlig
undenkbar). Sie erklärt sich indessen meines Erachtens besonders
leicht, wenn wir es mit Agatharchides zu tun haben, der, wie wir
schon früher sahen, ebensowenig von den skeptischen wie von den
romantischen Strömungen seiner Zeit unberührt war und von dem
wir demnach glauben dürfen, daß auch er gelegentlich unter
den Einfluß der mittelakademischen Skepsis geraten ist.
Aus der Art, wie Lucullus-Antiochus bei Cicero (Lucullus 19 ff.)
die Sinnenwahrnehmung verteidigt, und mehr noch aus der von
Cicero der akademischen Skepsis entlehnten Entgegnung (79 ff.)
sehen wir, wie niedrig im Kurse die Sinne da gestanden haben.
1 Vgl. "Οροι 414 B: δόξα ύπόληψις μεταπειστός ύπό λόγου· λογιστική
φορά· διάνοια έμπίπτουσα εις ψευδός καί άλη-θ-ές ύπό λόγου.
2 Man sieht das deutlich aus dem großen Fr. 9 (162f. Heinze; vgl.
diesen S. 5ff.), wo von der Unzuverlässigkeit des Gehörsinnes die Rede ist
(163, 5 καί μάλλον έν ταράχω έστίν ή άκοή ήπερ ή οψις). 163, 21 heißt es
dann ganz allgemein: h-εωρών ούν τάς αίσ-9-ήσεις μή έστώσας άλλ’ έν ταράχω
οΰσας καί τό άκριβές μή καταλαμβανούσας. Auch hier nicht schlechthin das
ψευδές. — Zu beachten ist übrigens, daß ebd. 163, 20 von der αΐσ-9-ησις
selbst die φαντασία unterschieden wird. In Fr. 8 wird von Boethius, der
die Lehren von Plato, Aristoteles, Speusipp und Xenocrates wiedergeben
will, die Reihe gebildet: res, sensus, imaginationes, intellectus. Daran
schließt sich wohl auch der Anonymus in der Doppelung seines ersten
Gliedes.
Otto Immisch:
μης). Was aber den Wahrheitsgehalt angeht, so eignet er natür-
lich vollständig nur der επιστήμη. Die δόξα umfaßt Wahres und
Falsches1. Von der αΙσΦησις aber heißt es, mehr entsprechend
den όροι und viel nachsichtiger als beim Anonymus: άλη-θ-ές
μέν, ούχ ουτω δέ ώς τό διά του επιστημονικού λόγου. Ηεινζε
bemerkt zwar mit Recht (und es folgt das schon aus dem
über das Mischgebilde δόξα Gesagten), gegenüber der επιστήμη
habe die α’ίσΕησις auch schlechthin als ψευδής bezeichnet werden
können. Aber geschehen ist es nun einmal in den grundlegenden
Sätzen nicht, die Tendenz zu einer etwas höheren Wertung der
sinnlichen Wahrnehmung war also auch bei Xenocrates2 vorhan-
den, und zwar im Gegensatz zu Platon (und „Pythagoras“; vgl.
Aetius 396, 12). Schwerlich ist indessen die abweichende, schroffe
Ausdrucksweise des Anonymus nur auf eine allzu peremptorische
Fassung der Worte durch Photius zurückzuführen, obgleich die
schlechthin verwerfende Haltung für unseren Mann auch in seiner
Eigenschaft als Peripatetiker auffällig ist (bei dem von Schwartz
und Leopoldi angenommenen Epikureismus wäre sie völlig
undenkbar). Sie erklärt sich indessen meines Erachtens besonders
leicht, wenn wir es mit Agatharchides zu tun haben, der, wie wir
schon früher sahen, ebensowenig von den skeptischen wie von den
romantischen Strömungen seiner Zeit unberührt war und von dem
wir demnach glauben dürfen, daß auch er gelegentlich unter
den Einfluß der mittelakademischen Skepsis geraten ist.
Aus der Art, wie Lucullus-Antiochus bei Cicero (Lucullus 19 ff.)
die Sinnenwahrnehmung verteidigt, und mehr noch aus der von
Cicero der akademischen Skepsis entlehnten Entgegnung (79 ff.)
sehen wir, wie niedrig im Kurse die Sinne da gestanden haben.
1 Vgl. "Οροι 414 B: δόξα ύπόληψις μεταπειστός ύπό λόγου· λογιστική
φορά· διάνοια έμπίπτουσα εις ψευδός καί άλη-θ-ές ύπό λόγου.
2 Man sieht das deutlich aus dem großen Fr. 9 (162f. Heinze; vgl.
diesen S. 5ff.), wo von der Unzuverlässigkeit des Gehörsinnes die Rede ist
(163, 5 καί μάλλον έν ταράχω έστίν ή άκοή ήπερ ή οψις). 163, 21 heißt es
dann ganz allgemein: h-εωρών ούν τάς αίσ-9-ήσεις μή έστώσας άλλ’ έν ταράχω
οΰσας καί τό άκριβές μή καταλαμβανούσας. Auch hier nicht schlechthin das
ψευδές. — Zu beachten ist übrigens, daß ebd. 163, 20 von der αΐσ-9-ησις
selbst die φαντασία unterschieden wird. In Fr. 8 wird von Boethius, der
die Lehren von Plato, Aristoteles, Speusipp und Xenocrates wiedergeben
will, die Reihe gebildet: res, sensus, imaginationes, intellectus. Daran
schließt sich wohl auch der Anonymus in der Doppelung seines ersten
Gliedes.