Studien über Rudolf von Ems.
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Kunst vervollkommnen, nicht weiterverfolgen. Er hatte nicht
mehr Zeit zu innerer Sammlung und zu vertiefter Ausarbeitung1.
Es kam aber dazu auch noch ein Wandel in den künstlerischen
Grundsätzen: er hat nun von vornherein prinzipiell auf die Form
geringeren Wert gelegt, indem er einer andern Kunstrichtung,
derjenigen der schwäbischen Dichter, sich zuneigte (s. unten
S. 97 ff.).
Man kann noch ein anderes Anzeichen prinzipieller Art für
die Nachfolge des Willehalm nach dem Alexander beibringen,
das ist die Stoffbehandlung in ersterem Roman. Rudolf, der die
Nachahmung bedeutender Meister als Grundgesetz für sein dich-
terisches Schaffen aufstellt, läßt nicht nur fremde Muster in Inhalt
und Form stark auf sich wirken, er ist ebenso abhängig von eigenem
früher Geleistetem, er schreibt sich selbst aus, und Nachahmung
und Selbstwiederholung sind die einfachen Kunstmittel seiner
mechanischen Arbeitsweise. Nun beruht gerade der Willehalm
weithin auf Nachahmung, hauptsächlich Gotfrids und Wolframs,
er ist vom Dichter in unmittelbarer Anlehnung an seine Vorbilder
konzipiert. Er wird also auch dort, wo er mit dem Alexander
zusammentrifft, sekundär sein. Die sehr zahlreichen Selbstwieder-
holungen, die inhaltlichen und wörtlichen Übereinstimmungen in
den beiden Romanen, zuvörderst in den Prologen, liefern das
Hauptmaterial für eine kritische Einzelvergleichung der beiden
Werke. Solche Erwägungen analytischer Art sprechen von vorn-
herein dafür, daß der Alexander das frühere Werk ist. Aber der
eigentliche Beweis ist auf induktivem Wege durch Sammlung
einzelner Belegstellen zu führen. Auf diese Weise kann, unter
Voraussetzung der eben angeführten allgemeinen Gesichtspunkte,
vielleicht wenigstens ein hoher Grad von Wahrscheinlichkeit für
die Priorität des Alexander erreicht werden.
Die Spezialuntersuchung muß ausgehen von den vergleich-
baren Stellen, von solchen also, die in beiden Werken gemeinsame
Beziehungen, in Gedanken und in Worten, enthalten. Diese
Stellen sind auf ihre Ursprünglichkeit hin zu prüfen. Läßt sich
1 Wie weit diese Vermutungen auch auf den Alexander zutreffen, kann
sich erst aus einer Stiluntersuchung ergeben. Der Rückschritt in der Dar-
stellungsweise Rudolfs könnte auch eine Folge von abnehmender dichterischer
Leistungsfähigkeit sein, doch ist dies nicht wahrscheinlich, da noch in der
Weltchronik sehr kunstreiche Stellen Vorkommen. —- Über den Gebrauch der
Tempora in den literarhistorischen Stellen vgl. Herchenbach, Das Präsens
historicum im Mittelhochdeutschen, Palaestra GIV (1911), S. 152'—-163.
Ehrismann, Studien über Rudolf von Ems.
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Kunst vervollkommnen, nicht weiterverfolgen. Er hatte nicht
mehr Zeit zu innerer Sammlung und zu vertiefter Ausarbeitung1.
Es kam aber dazu auch noch ein Wandel in den künstlerischen
Grundsätzen: er hat nun von vornherein prinzipiell auf die Form
geringeren Wert gelegt, indem er einer andern Kunstrichtung,
derjenigen der schwäbischen Dichter, sich zuneigte (s. unten
S. 97 ff.).
Man kann noch ein anderes Anzeichen prinzipieller Art für
die Nachfolge des Willehalm nach dem Alexander beibringen,
das ist die Stoffbehandlung in ersterem Roman. Rudolf, der die
Nachahmung bedeutender Meister als Grundgesetz für sein dich-
terisches Schaffen aufstellt, läßt nicht nur fremde Muster in Inhalt
und Form stark auf sich wirken, er ist ebenso abhängig von eigenem
früher Geleistetem, er schreibt sich selbst aus, und Nachahmung
und Selbstwiederholung sind die einfachen Kunstmittel seiner
mechanischen Arbeitsweise. Nun beruht gerade der Willehalm
weithin auf Nachahmung, hauptsächlich Gotfrids und Wolframs,
er ist vom Dichter in unmittelbarer Anlehnung an seine Vorbilder
konzipiert. Er wird also auch dort, wo er mit dem Alexander
zusammentrifft, sekundär sein. Die sehr zahlreichen Selbstwieder-
holungen, die inhaltlichen und wörtlichen Übereinstimmungen in
den beiden Romanen, zuvörderst in den Prologen, liefern das
Hauptmaterial für eine kritische Einzelvergleichung der beiden
Werke. Solche Erwägungen analytischer Art sprechen von vorn-
herein dafür, daß der Alexander das frühere Werk ist. Aber der
eigentliche Beweis ist auf induktivem Wege durch Sammlung
einzelner Belegstellen zu führen. Auf diese Weise kann, unter
Voraussetzung der eben angeführten allgemeinen Gesichtspunkte,
vielleicht wenigstens ein hoher Grad von Wahrscheinlichkeit für
die Priorität des Alexander erreicht werden.
Die Spezialuntersuchung muß ausgehen von den vergleich-
baren Stellen, von solchen also, die in beiden Werken gemeinsame
Beziehungen, in Gedanken und in Worten, enthalten. Diese
Stellen sind auf ihre Ursprünglichkeit hin zu prüfen. Läßt sich
1 Wie weit diese Vermutungen auch auf den Alexander zutreffen, kann
sich erst aus einer Stiluntersuchung ergeben. Der Rückschritt in der Dar-
stellungsweise Rudolfs könnte auch eine Folge von abnehmender dichterischer
Leistungsfähigkeit sein, doch ist dies nicht wahrscheinlich, da noch in der
Weltchronik sehr kunstreiche Stellen Vorkommen. —- Über den Gebrauch der
Tempora in den literarhistorischen Stellen vgl. Herchenbach, Das Präsens
historicum im Mittelhochdeutschen, Palaestra GIV (1911), S. 152'—-163.
Ehrismann, Studien über Rudolf von Ems.
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