ExotismVs der Sinne.
67
jungfräuliches, paradiesisches Land, aus dem wie im Orient eine
einfache und zugleich großartige Kultur sich entwickelte, nach
welcher der heutige Mensch sich zurücksehnt. Als einziger
unter den französischen Exotisten hat er die Antike in einer
leidlich zutreffenden Beleuchtung gesehen. Darum hat auch sein
Griechentum, dessen nächste Parallele er im alten Indien sah,
mit dem Bilde der Antike, das die anderen Exotisten sich ent-
warfen und ersehnten, nur noch wenig gemeinsam. Wie für
Gautier und so viele andere Exotisten, drückt auch für ihn seine
Stellung zur Antike sich zunächst aus in der Gegenüberstellung
von Heidentum und Christentum. In dem Gedicht auf Hypatia,
das er dreiundzwanzigjährig auf seiner Heimatsinsel nieder-
schreibt128, feiert er die Priesterin, die den Kult der alten Götter
noch eimnal erneuerte, die im Besitz des gesuchten Ideals das
Scheinglück des Christentums zurückweisen konnte:
Le vil Galileen t’a trappe et maudite,
Mais tu tombas plus grande! Et maintenant, helasl
Le souffle de Platon et le corps d’Aphrodite
Sollt partis ä jamais piour les beaux cieux d’ILellas.
In zahlreichen anderen Gedichten hat er die Lebensfreude
der Antike mit der Askese des Christentums kontrastiert und
seiner Sehnsucht nach den Tagen von Hellas Ausdruck ge-
geben129, am schönsten in dem Gedicht Venus de Milo (1845)130:
lies, sejour des Dieux! Hellas, mere sacree!
Oh! qpie ne suis-je ne dans le saint Archipel
Aux siecles glorieux oü la Terre inspiree
Voyait le Ciel descendre ä son premier appel!
Die theoretische Ergänzung lieferte er in der Vorrede zu den
Poemes antiques (1852) und vor allem in dem Prefcice des Poemes
et Poesies (1855), wo er auseinandersetzt, wie seit der Blütezeit
von Hellas die große Tradition der Kunst verloren gegangen ist
und wie mit dem Polytheismus alles dahingeschwunden ist, was
wahre Kunst, Moral und Wissenschaft bedingt, und wie all das
wieder mit der Überwindung des Christentums durch die Re-
naissance erstehen konnte. Für ihn wie für so viele Exotisten
ist Correggio das Symbol dieses neuerstehenden Heidentums.
128 Entstanden 1841—42, erschienen in den Poemes antiques. Vgl. D0RN1S,
Leconte de Lisle intime (1895), S. 11.
129 Vgl. etwa Hypatie et Cyrille, Chant alter ne und Dies irae in den Poemes
antiques, oder Le dernier Dieu in Poemes tragiques.
130 Über das Datum LEBLOND, S. 435. Erschienen in den Poemes antiques.
5*
67
jungfräuliches, paradiesisches Land, aus dem wie im Orient eine
einfache und zugleich großartige Kultur sich entwickelte, nach
welcher der heutige Mensch sich zurücksehnt. Als einziger
unter den französischen Exotisten hat er die Antike in einer
leidlich zutreffenden Beleuchtung gesehen. Darum hat auch sein
Griechentum, dessen nächste Parallele er im alten Indien sah,
mit dem Bilde der Antike, das die anderen Exotisten sich ent-
warfen und ersehnten, nur noch wenig gemeinsam. Wie für
Gautier und so viele andere Exotisten, drückt auch für ihn seine
Stellung zur Antike sich zunächst aus in der Gegenüberstellung
von Heidentum und Christentum. In dem Gedicht auf Hypatia,
das er dreiundzwanzigjährig auf seiner Heimatsinsel nieder-
schreibt128, feiert er die Priesterin, die den Kult der alten Götter
noch eimnal erneuerte, die im Besitz des gesuchten Ideals das
Scheinglück des Christentums zurückweisen konnte:
Le vil Galileen t’a trappe et maudite,
Mais tu tombas plus grande! Et maintenant, helasl
Le souffle de Platon et le corps d’Aphrodite
Sollt partis ä jamais piour les beaux cieux d’ILellas.
In zahlreichen anderen Gedichten hat er die Lebensfreude
der Antike mit der Askese des Christentums kontrastiert und
seiner Sehnsucht nach den Tagen von Hellas Ausdruck ge-
geben129, am schönsten in dem Gedicht Venus de Milo (1845)130:
lies, sejour des Dieux! Hellas, mere sacree!
Oh! qpie ne suis-je ne dans le saint Archipel
Aux siecles glorieux oü la Terre inspiree
Voyait le Ciel descendre ä son premier appel!
Die theoretische Ergänzung lieferte er in der Vorrede zu den
Poemes antiques (1852) und vor allem in dem Prefcice des Poemes
et Poesies (1855), wo er auseinandersetzt, wie seit der Blütezeit
von Hellas die große Tradition der Kunst verloren gegangen ist
und wie mit dem Polytheismus alles dahingeschwunden ist, was
wahre Kunst, Moral und Wissenschaft bedingt, und wie all das
wieder mit der Überwindung des Christentums durch die Re-
naissance erstehen konnte. Für ihn wie für so viele Exotisten
ist Correggio das Symbol dieses neuerstehenden Heidentums.
128 Entstanden 1841—42, erschienen in den Poemes antiques. Vgl. D0RN1S,
Leconte de Lisle intime (1895), S. 11.
129 Vgl. etwa Hypatie et Cyrille, Chant alter ne und Dies irae in den Poemes
antiques, oder Le dernier Dieu in Poemes tragiques.
130 Über das Datum LEBLOND, S. 435. Erschienen in den Poemes antiques.
5*