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Künßberg, Eberhard; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1920, 7. Abhandlung): Rechtsbrauch und Kinderspiel: Untersuchungen zur deutschen Rechtsgeschichte und Volkskunde — Heidelberg, 1920

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https://doi.org/10.11588/diglit.37774#0032
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E. Frh. y. Künssberg:

§ 48. Durch den Genuß des Herzens eines ungeborenen Kindes glaubten
sich in früherer Zeit die Verbrecher so zu stärken, daß sie selbst
den Folterqualen widerstehen konnten; wenn mehrere Räuber
oder Mörder gemeinsam ein solches Herz in Warmbier zu sich
nahmen, so meinten sie vor gegenseitigem Verrat sicher zu sein,
„dass diese Suppe wider die Marter dienen würde“1.
§ 49. Der Dieb kann ungestört seiner Arbeit nachgehen, wenn ihm
die Unschuld eines Kindes dabei hilft. Es ist der grauenhafte
Zauber des Diebslichtes2, der Diebskerze, des Schlafdaumens, den
der Dieb dabei gebraucht. Das Diebslicht hat doppelte Kraft:
der Dieb kann erstens mit seiner Hilfe sehen, ob noch jemand im
Hause, das er besucht, wach ist und zweitens wird er selbst bei der
Arbeit unsichtbar; die Hausbewohner schlafen besonders fest beim
Scheine3 der Diebskerze. Nur mit Milch geht die Kerze zu ver-
löschen, weil Milch als Nahrung der unschuldigen Kinder besonders
wirkungsvoll4. Aber zu einer solchen Kerze braucht man den Finger
von der Leiche eines unschuldigen Kindes. Je unschuldiger und
kleiner das Kind, desto sicherer die Wirkung; daher trachtete man
Finger eines noch ungetauften oder gar noch ungeborenen Kindes
zu erlangen. Das führte zu Abtreibung5, Leichenschändung und
1 Döpler, Schauplatz der Leibesstrafen II, 311 f. Vgl. ArchKrim. 17,
Heft 1.
2 Gross, Handbuch6, 529f. Ave-Lallement, Gaunertum II, 19f. J.
Grimm, Mythologie4, 897f. Schamberg, De jure digitorum 1715, S. 61 ff.
SchweizArchVk. 19 (1915), 55. Wuttke, Deutscher Volksaberglaube3, S. 134.
Krause, Zur Geschichte des Gaunerwesens und Verbrecheraberglaubens in
Norddeutschland im 16. Jhd. Beitr. z. G. d. Stadt Rostock 6 (1912), 123. Döp-
ler, Schauplatz der Leibesstrafen I, 987f. Hellwig, Verbrechen und Aber-
glaube, 72ff. Zum Fingerabschneiden zu Zauberzwecken vgl. Preuss,
Urspr. der Religion „Globus“ 87 (1905), 413f.
3 Auch Heiligenfinger leuchten. Von mehreren Heiligen (Marianus
Scotus, Firmianus, Columba, Kardinal Konrad von Bayern) berichtet die
Legende, daß sie in Ermangelung eines anderen Lichtes bei Nacht beim Scheine
ihres eigenen Schreibfingers geschrieben hätten. Görres, Mystik II, 327.
Der abgeschlagene Finger der hl. Elina wurde bei Nacht gefunden, weil er
leuchtete. Er ist auch heilkräftig gewesen. Afzelius, Schwedische Volks-
sagen III, 252. Menzel, Christi. Symbolik I, 285.
4 Vgl. Wyss, Die Milch im Kultus der Griechen und Römer, 1914
(Religionsgeschichtliche Versuche 15, 2).
5 Vgl. Schaffer, Beschreibung der Jauner, Zigeuner, Straßenräuberusw.,
1801, S. 84: „mit sehr starken Sachen das Kind abgetrieben, diesem Kind den
Bauch auf geschnitten, das Herzten davon gefressen, auch beide Händlen abge-
schnitten. Vor dem Einbruch hätten sie dann allemal die zehn Fingerten hievon
angezündet; soviele nun davon gebrannt, soviele Leute haben auch in dem Haus,
 
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