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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0018
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Gerhard Ritter:

die der Magister erscheint z. B. in dem rotulus von 1362 ungeheuer-
lich groß: allein 441 Artisten werden aufgezählt, davon 55 An-
gehörige der natio Anglicana. Sicher ist diese Zahl durch Zulauf
von abwesenden und ausgeschiedenen Pariser Akademikern stark
aufgeschwellt; doch wird sie auch so das Verhältnis der englisch-
deutschen zu den übrigen Nationen zutreffend bezeichnen. Nur
vergrößert sich der Abstand durch die Tatsache, daß von den oberen
Fakultäten nur die theologische eine nennenswerte Zahl deutscher
Mitglieder enthielt. So fühlte sich die natio Anglicana als die
kleinste, ja eigentlich als die einzige nicht-französische neben
Pikarden1, Normannen und Galliern, von dem Übergewichte der
Romanen stark eingeengt. Solange keine Reibungen eintraten,,
nahmen die deutschen Pfründenbewerber gerne Anteil an den
günstigen Aussichten, die den Pariser Universitätsmitgliedern die
Nähe der C.urie in Avignon und deren besonderes Schirmverhältnis
zu der großen Pariser Korporation bot. Die einflußreiche Stellung
der Universität am Hofe, ja im Staate und der Kirche Frankreichs,
ihr universales europäisches Ansehen in theologischen Fragen, die
in Deutschland unbekannte Weite und Größe der Lebensverhält-
nisse einer nationalen Hauptstadt, die viel nähere Beziehung zu
der neuen italienischen Renaissancekultur — alles das mußte eine-
Anziehungskraft auf die begabtesten deutschen Köpfe ausüben,
wie sie noch in den entzückten Worten Konracls von Gelnhausen
an den königlichen Kanzler Philipp de Mezieres — durch alle
phrasenhafte Schmeichelei hindurch — zu spüren ist: Parisius.
omnium, que humanam decorant vitam, admirabilis consurgit pulchri-
tudo, ut non tarn Parisius, quam Paradisius congrue vocitetur;
quorum odoris dulcis flagrancia huc de Longinquis me exiguum allexit
et revexit2. Es wird für die deutschen Lehrer günstig gewesen sein,
daß Karl IV. im Gegensatz zu seinem Vorgänger auf gute Bezie-
hungen sowohl nach Avignon wie nach Paris Wert legte. Aber je
mehr im Laufe der Jahrzehnte französisches Königtum und avig-
nonesisehes Papsttum einander unentbehrlich wurden, um so mehr
konnte das enge Verhältnis zur Kurie als ein französisches Vor-
recht erscheinen. Der französische Klerus bekam die Folgen der
wachsenden Abhängigkeit des Papstes vom Hofe an sich selbst
in vermindertem Schutz gegenüber den Ansprüchen der könig-
1 Die pikardische umfaßte neben Wallonen, Vlamen und gewissen nord-
französischen Landschaften auch die westlich der Mosel wohnenden Deutschen.
2 18. 7. 1379, ed. Schmitz, Röm. Quartalschr. 9.
 
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