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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0055
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Studien zur Spätscholastik. I.

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dem Sentenzenkommentar zwingen nicht zu dieser Annahme1.
Jedenfalls werden wir gut tun, die okkamistisch klingenden Sätze
lieber aus der Tradition der Pariser Schule als aus den Ansichten
des englischen Philosophen zu erklären. Überdies erinnert die auf-
fallend glatte und unschematische Darstellungsform der Erkenntnis-
lehre lebhaft an gewisse Teile der (später zu besprechenden) Physik,
in denen die neueste Pariser Lehrmeinung eindeutig zu erkennen ist2.
Das wesentlich Neue der Erkenntnislehre Okkams: die Besei-
tigung der überlieferten Lehre von den Abbildern der singulären
und der allgemeinen Realitäten in der Seele (species sensibiles bezw.
specie.s intelligibiles), auf deren Verarbeitung die Erkenntnis der
Wirklichkeit beruhen sollte, sowie die statt dessen eingeführte Vor-
stellung, das Verhältnis der erkennenden Seele zum erkannten
Objekt beruhe auf der „Supposition“ der Bewußtseinsinhalte
(t er mini) als „Zeichen“ für die dadurch vertretenen außermentalen
Objekte — das alles ist in demjenigen Stadium der Pariser Tradition,
das Marsilius vertritt, bereits zu einer kaum noch erörterten Voraus-
setzung geworden3. Auch die Frage nach der Möglichkeit der Ein-
wirkung des objektiven Seins auf das Subjekt wird von Marsilius
nicht berührt. Das ist umso merkwürdiger, als er die Hetero-
genität des „Denkenden und Ausgedehnten“ mit einer Bestimmt-
heit erfaßt hat, die in ihrer Terminologie unmittelbar an Descartes
erinnert und im Grunde jede unmittelbare Einwirkung des Äußeren
auf das Innere ausschließt4. Trotzdem spricht er ganz unbefangen
und unerklärt von einer Einwirkung der äußeren Dinge auf die
Sinne und von der Umsetzung der so entstehenden Eindrücke in
psychische Qualitäten. Auch Wilhelm Okkam hatte in unent-
schiedenem Nebeneinander die produktive Aktivität des erkennen-
den Intellekts und die Einwirkung der äußeren Dinge auf das
1 Ein genau bezeichnetes Zitat habe ich nur 1. sent. I, qu. 2, art. 3,
Bl 12, b bemerkt. Das Fehlen aller Schriften Okkams in der Bibliothek
des M. v. I. wurde schon oben festgestellt. War am Ende das Studium der
Originalschriften des gefährlichen Revolutionärs um 1370 in Paris noch
ungewöhnlich ?
2 Die Lehre vom impetus, s. u. p 104 ff.
3 Gelegentliche Erörterung: lib. sent. I, qu. 12, art. 1. Bl. 58 v.
4 De generatione et corrupt.ione, 1. I, qu. 17, art. 1 (Druck nr. 7): Intelli-
gibile non potest producere virtute propria proprium actum intelligendi. Pro-
batur: quia intelligibile presentatum sensui. semper est divisibile, intellectus autem
indivisibilis; quare non sunt eiusdem materie seu generis; ergo unum non potest
agere in alium. . . . Intellectus de per se producit in se proprium actum intelli-
gendi.
 
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