Studien zur Spätscholastik. I.
57
Objekt1, aber das Urteil geht immer nur auf ein einzelnes Wahr-
nehmungselement ohne synthetische Zuordnung, ist also ,,in-
komplex“. Eine „komplexe“ Erkenntnis entsteht aber immer nur
da, wo Subjekt und Prädikat im Urteil einander zugeordnet werden,
wie z. B. in dem Satze: „Dieses Sichtbare ist süß“. Das erfordert
schon eine gewisse abstraktive Tätigkeit, zu der die Sinnlichkeit
unfähig ist. Jeder einzelne Sinn ist vielmehr gebunden an die
bloße „Demonstration“, d. h. die Feststellung der tatsächlichen
Existenz des wahrgenommenen Objekts innerhalb seiner begrenzten
W ahrnehmungssphäre2.
Höher stehen die Fähigkeiten des „inneren Sinnes“, der bereits
zu einer unterscheidenden und verbindenden (komplexen) Urteils-
bildung imstande ist. Was ist unter diesem „inneren Sinne“ zu
verstehen? Offenbar nicht etwas, das dem augustinischen und
dem modernen Begriff der „inneren Erfahrung“, zu dem die An-
sätze bei Okkam sich finden3, ohne weiteres analog wäre; denn
nicht die psychischen Zustände (oder doch nicht sie allein) sollen
von diesem „Sinn“ aufgefaßt werden, sondern gleichfalls die
äußeren Dinge, über die er sowohl „inkomplex“ als „komplex“
urteilen kann4. Ganz eindeutig ist die psychologische Stellung
dieses „Sinnes“ nicht bestimmt; doch ergibt sich aus seiner Be-
zeichnung als Vermögen der sinnlichen Seele, seiner Abhängigkeit
von der äußeren Sinnestätigkeit5 und seiner Gleichstellung mit dem
„Gemeinsinn“, daß hier die „4 inneren Sinne“ gemeint sind, die
im Anschluß an die aristotelische Psychologie schon Thomas zu
den „apprehensiven Seelenkräften“ rechnete: Gemeinsinn, Ein-
bildungskraft, vis aestimativa und Gedächtnis. Zahlreiche Hin-
weise auf die Schrift de anima verstärken den Eindruck, daß hier
ein Stück Aristoteles nicht ganz einwandfrei in die „moderne“
Erkenntnislehre hineingearbeitet ist.
Echt okkamistisch ist dagegen die Feststellung, daß und wie
in aller Wahrnehmung sogleich der Verstand mitwirkt. Jede
1 lib. sent. I, qu. 2, art. 1, Bl. 10c.
2 Dabei ist der Tastsinn der „unvollkommenste und materiellste“, lib.
sent. I, qu. 2, Bl. 10d.
3 Ygl. darüber Siebeck, A. f. Ph. X, 328.
4 lib. sent. Bl. 10b, prop. 4: Sensus interior indicat complexe et incom-
plexe, patet de sensu communi dicente: hoc album est dulce etc.
5 1. c. Bl. 10 d: Sensus exterior est prior quam interior, quod exteriorem
interior presupponit.
57
Objekt1, aber das Urteil geht immer nur auf ein einzelnes Wahr-
nehmungselement ohne synthetische Zuordnung, ist also ,,in-
komplex“. Eine „komplexe“ Erkenntnis entsteht aber immer nur
da, wo Subjekt und Prädikat im Urteil einander zugeordnet werden,
wie z. B. in dem Satze: „Dieses Sichtbare ist süß“. Das erfordert
schon eine gewisse abstraktive Tätigkeit, zu der die Sinnlichkeit
unfähig ist. Jeder einzelne Sinn ist vielmehr gebunden an die
bloße „Demonstration“, d. h. die Feststellung der tatsächlichen
Existenz des wahrgenommenen Objekts innerhalb seiner begrenzten
W ahrnehmungssphäre2.
Höher stehen die Fähigkeiten des „inneren Sinnes“, der bereits
zu einer unterscheidenden und verbindenden (komplexen) Urteils-
bildung imstande ist. Was ist unter diesem „inneren Sinne“ zu
verstehen? Offenbar nicht etwas, das dem augustinischen und
dem modernen Begriff der „inneren Erfahrung“, zu dem die An-
sätze bei Okkam sich finden3, ohne weiteres analog wäre; denn
nicht die psychischen Zustände (oder doch nicht sie allein) sollen
von diesem „Sinn“ aufgefaßt werden, sondern gleichfalls die
äußeren Dinge, über die er sowohl „inkomplex“ als „komplex“
urteilen kann4. Ganz eindeutig ist die psychologische Stellung
dieses „Sinnes“ nicht bestimmt; doch ergibt sich aus seiner Be-
zeichnung als Vermögen der sinnlichen Seele, seiner Abhängigkeit
von der äußeren Sinnestätigkeit5 und seiner Gleichstellung mit dem
„Gemeinsinn“, daß hier die „4 inneren Sinne“ gemeint sind, die
im Anschluß an die aristotelische Psychologie schon Thomas zu
den „apprehensiven Seelenkräften“ rechnete: Gemeinsinn, Ein-
bildungskraft, vis aestimativa und Gedächtnis. Zahlreiche Hin-
weise auf die Schrift de anima verstärken den Eindruck, daß hier
ein Stück Aristoteles nicht ganz einwandfrei in die „moderne“
Erkenntnislehre hineingearbeitet ist.
Echt okkamistisch ist dagegen die Feststellung, daß und wie
in aller Wahrnehmung sogleich der Verstand mitwirkt. Jede
1 lib. sent. I, qu. 2, art. 1, Bl. 10c.
2 Dabei ist der Tastsinn der „unvollkommenste und materiellste“, lib.
sent. I, qu. 2, Bl. 10d.
3 Ygl. darüber Siebeck, A. f. Ph. X, 328.
4 lib. sent. Bl. 10b, prop. 4: Sensus interior indicat complexe et incom-
plexe, patet de sensu communi dicente: hoc album est dulce etc.
5 1. c. Bl. 10 d: Sensus exterior est prior quam interior, quod exteriorem
interior presupponit.