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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0059
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Studien zur Spatscholastik. I.

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kommt, so bilde ich nacheinander etwa folgende Begriffe: Dies
Sichtbare, dies Ausgedehnte, dieser Körper, dieses Lebewesen,
dieser Mensch, Sokrates1. Nur die ersten Begriffe einer solchen
Reihe sind im strengen Sinne „unbestimmt“ (vagus), die folgenden
gehören bereits zu den „distinkten“ Begriffen, deren Deutlichkeit
umgekehrt proportional dem Grad ihrer Allgemeinheit zunimmt.
Eben in dieser zunehmenden Herausschälung der Begriffe aus der
Fülle ihrer anfänglichen Bestimmungen betätigt sich das abstrak-
tive Vermögen des Verstandes, das von der Tatsächlichkeit der
sinnlichen Wahrnehmung abzusehen vermag2, im Gegensatz zu der
bloßen intellektiven Anschauung (intuitio). Und zwar besteht das
eigentümliche Verhältnis, daß der unbestimmte Einzelbegriff (con-
ceptus singularis vagus) im Abstraktionsprozesse früher erscheint
als der eigentliche Allgemeinbegriff der Gattung, Art usw.; so hat
der Begriff hoc prospectum die genetische Priorität vor dem Uni-
versale: hoc corpus; von da bewegt sich die Stufenfolge aufwärts
zu immer speziellerer Bestimmung der individuellen Besonderheit;
der bestimmte Einzelbegriff, das Individuum, ist die höchste und
darum letzte Abstraktion der Wahrnehmung3. So erklärt sich die
Entstehung der Allgemeinbegriffe aus der Aktivität des Intellekts
ohne Zuhilfenahme einer objektiven Realität des Allgemeinen in
den Dingen. Sie werden gleichsam herausgeschält aus der „Ver-
worrenheit der Bestimmungen“ (ex conjusione accidentium), die in
der sinnlichen Einzelvorstellung dem Verstand sich darbietet, mit
Hilfe der Vergleichung verschiedener irgendwie einander ähnlicher
Einzelvorstellungen untereinander, deren Gemeinsamkeiten als
Allgemeinbegriffe herausgehoben werden, so daß gleichzeitig die
Besonderheit des einzelnen conceptus immer deutlicher heraustritt.
Damit löst sich Marsilius in interessanterWeise von Aristoteles los
zugunsten eines zukunftsreichen Gedankens, der seit Duns Scotus
immer schärfer herausgearbeitet war. Die viel zitierte und viel-
1 abbrev. phys. Bl. 4, b. Ähnlich im Sentenzenkommentar.
2 Die Sinnlichkeit ist darauf angewiesen, ihre Wahrnehmungen demon-
strative als tatsächlich zu erweisen; das Produkt der Abstraktion, der Begriff,
bedarf nicht dieses „Hinweises“ (non includit demonstrationein) 1. sent. II,
16, Bl. 273b.
3 abbrev. phys. Bl. 4a: Res prius ab intelleclu cognoscitur conceptu
singulari vago quam universali. . . prius universaliter quam conceptu singulari
determinato. . . Cognicio rei secundum conceptum determinatum est. . . distinc-
tissima et difficillima et ideo ultimo advenit. Vgl. ähnliche Darlegungen Okkams:
Stöckl II, 990/1.
 
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