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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0061
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Studien zur Spätscholastik. I.

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einander (convenientia) als objektiven Grund für die Bildung der
subjektiven Allgemeinbegriffe anerkannt1 und damit eine meta-
physische Behauptung aufgestellt, die den Bahmen der Darstel-
lung des rein subjektiven Erkenntnisvorganges durchbrach. Mar-
silius von Inghen war noch weniger als sein (gegen alle Metaphysik
skeptisch gestimmter) englischer Vorgänger geneigt, auf die Er-
kenntnis des objektiven Zusammenhangs der Dinge zu verzichten.
Mit alledem befinden wir uns (wie bei Okkam) noch im Gebiet
der gleichsam automatisch wirkenden Verstandestätigkeit: denn
die Abstraktion der Allgemeinbegriffe erfolgt ,,von selbst (naturali-
ter), nicht freiwillig“, d. h. ohne bewußtes, vom Willen bestimmtes
Nachdenken; und da es sich um Einzelbegriffe handelt, ist diese
Abstraktion als ,,inkomplex“ zu betrachten. Erst die „komplexe“
Erkenntnis setzt die so gewonnenen Einzelbegriffe zueinander in
Beziehung, entweder „unmittelbar“ d. h. ohne formelle Urteils-
bildung, wie in dem synthetischen Begriff „der weiße Mensch“
(complexio non propositionalis vel indistans) oder „mittelbar“ im
formellen Urteil (complexio proportionalis vel distans). Erst auf
dieser Stufe des Prozesses kommt es zu einer eigentlichen Asso-
ziation der Vorstellungen (noticia intellectiva compositiva), z. B. in
der Verbindung der Elemente homo und animal zu dem Urteil:
Homo est animal2. Im Akt des Urteilens, der deshalb im Mittel-
punkt der „modernen“ Logik steht, vollendet sich die verstandes-
mäßige Erkenntnis. Dabei ist zu unterscheiden zwischen der bloß
„apprehensiven“ Konstatierung der bestehenden Begriffsverbin-
dung als einer seelischen Tatsache3 und ihrer Annahme im bejahen-
den Urteil4 *, das seinerseits wieder mit oder ohne vorgängigen
Beweis erfolgen kann. Nirgends in dieser Beschreibung des Er-
kenntnisprozesses ist von der für Okkams System so fundamental
bedeutsamen augustinischen Mitwirkung des Willens im Urteil die
Bede, und wenn dieser Vorgänger den Unterschied der automati-
1 Vgl. die Zitate bei Überweg-Baumgartner II10, p. 602.
2 abbrev. phys. Bl. 3. Dort wird unterschieden zwischen: noticia
intellectiva, intuitiva, abstractiva, compositiva und elicitiva. Die letztere ist
der tierische Instinkt, mit dem z. B. das Schaf eine inkomplexe Vorstellung
von der Gefahr hat, wenn es Farbe, Gestalt usw. des Wolfes erblickt.
3 lib. sent. I, qu. 2, Bl. 10, d — 11, a: Noticia propositionali apprehensiva
. . . apprehenditur sententia, quam propositio iuxta significationem suorum
terminorum importat . . . Est autem apprehensiva ipsamet propositio intellecta.
4 ibid. Bl. 11: Alia est (noticia) assensiva, qua propositioni apprehensae
assentimus.
 
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