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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0069
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Studien zur Spätscholastik. I.

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unter Vernachlässigung der materialen Disziplinen der Philosophie
geführt1. Soweit sich dieses Urteil über den zunehmenden gram-
matischen Schematismus der „modernen“ Logik beklagt, wird es
von keiner Seite Widerspruch erfahren — obschon in dem Ausbau
des „terministischen“ Systems während des 15. Jahrhunderts
zwischen Thomisten, Skotisten und Okkamisten nur graduelle
Unterschiede bestanden. Für die Naturwissenschaften ist es
schlechthin irrig. Daß die rationalistischen Ansätze der okkamisti-
schen Erkenntnistheorie durch mindestens ebenso starke empiri-
stische aufgewogen wurden, haben wir bereits gesehen. Aber auch
abgesehen von aller Theorie ist nicht zu erkennen, daß die „Mo-
dernen“ grundsätzlich die Naturwissenschaften besonders arg ver-
nachlässigt hätten. Viel eher könnte man sagen, daß Okkams
radikale Scheidung der Gebiete von Glauben und Wissen gerade
zur Verselbständigung so rein weltlicher Wissenschalten wie der
Naturbetrachtung beigetragen hat. Nun hat sich gewiß die Spät-
scholastik in gewissem Sinne (wir erwähnten es bereits) von den
naturwissenschaftlichen Realitäten fortentwickelt. Aber an den
„nominalistischen“ Grundsätzen kann das nicht gelegen haben.
Was hätten denn die Vertreter des thomistischen, skotistischen oder
averroistischen „Realismus“, die Erneuerer der via antiqua im
15. Jahrhundert, an sachlichen Leistungen in der physikalischen
Weltbetrachtung vor den moderni voraus? Soweit sie nicht ein-
fach die älteren Traditionen wieder aufwärmten, haben sie sich
vor Entlehnungen aus den Schriften ihrer nominalistisehen Gegner
keineswegs gescheut2. Die Schwierigkeit des mittelalterlichen Den-
kens, zu eigenen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zu gelangen,
ist ja nicht auf die Spätscholastik beschränkt: sie ist letztlich in
dem Gegensatz scholastischer, d. h. schulmäßiger, nur nach denken-
der Wissenschaft zum Erfahrungsprinzip der modernen Welt über-
haupt begründet. Seit dem 14. Jahrhundert verschärft sie sich
allerdings nicht unwesentlich durch eine Übersteigerung der dialek-
tischen Forschungs- und Darstellungsmethode mit ihrer „buch-
gelehrten Diskussion der Autoritäten“3, die wir an den physikali-
schen und theologischen Werken des Marsilius noch studieren
1 So etwa Hermelink a. a. O. 97. Die von H. bekämpfte Ansicht
Windelbands 1. c. 287) kommt der Wahrheit sehr viel näher, obgleich W.
die Forschungen Duhems noch nicht kannte.
2 Belege s. bei P. Duhem III, 97 ff.
3 Windelband, Gesch. d. Phil.4, 287.
 
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