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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0073
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Studien zur Spätscholastik. I.

nur ausnahmsweise eine besondere Begründung; ergänzende Gor-
relarien finden sich selten oder gar nicht1.
Bei Okkam ist der Text des Lombarden verschwunden; die
dialektische Erörterung beherrscht ausschließlich das Feld; immer-
hin ist die Einteilung in Distinktionen noch festgehalten; öfter als
später findet sich direkte Berufung auf die Fragestellung des
Petrus. Eine umständliche Überprüfung jedes Syllogismus ver-
langsamt den Gedankenfortschritt; endlose dubia, opiniones und
Unterteile schleppen das Problem zu Tode. Dennoch wirkt das
Ganze nicht unlebendig; eine geniale Sicherheit der Fragestellung
leuchtet oft hindurch; unbekümmert sprengt zuweilen die Energie
des Gedankens den starren Panzer der dialektischen Rüstung:
nebensächliche Erörterungen fallen aus oder werden mit rascher
Handbewegung abgetan.
Weit schulmäßiger finden wir das alles bei Marsilius von Inghen
wieder. Am regelrechtesten und umständlichsten ist das Schema
durchgebildet in der letzten Schrift, dem Sentenzenkommentar.
Hier war das rechte Feld für systematische Weltbetrachtung und
damit für die deduzierende Methode des Syllogismus. Der normale
Verlauf der Erörterung beginnt mit der Zerlegung der quaestio in
Voraussetzungen (supposita) und Ziel (quaesitum) der Frage. Häufig
ist die Frage schon so künstlich gestellt, daß möglichst zahlreiche
Voraussetzungen hineingepackt werden. Weiterhin hat sich dann
die schon bei Thomas übliche Gegenüberstellung bejahender und
verneinender Thesen zu einer vollständigen Doppelbehandlung des
Problems ausgewachsen. Regelmäßig folgen nämlich unmittelbar
auf die Zerlegung der quaestio eine Reihe thesenartig aufgestellter
Argumente (rationes principales) in schneller Reihenfolge mit
verhältnismäßig kurzer Begründung durch je etwa 1 — 5 Syllogis-
men (propositiones); Autoritäten werden hierbei sparsamer als
sonst zitiert. Das Ziel dieser ersten, gewissermaßen einleitenden
Erörterung ist regelmäßig der erst später erkennbaren Meinung
des Autors entgegengesetzt. Wenn die quaestio endgültig mit ,, Ja“
beantwortet wird, finden wir hier also die verneinende These und
umgekehrt. Was bei Thomas Thesis bzw. Antithesis war, ist hier
zu einem gar nicht ernst gemeinten Präludium geworden; es sind
gewissermaßen die Scheinargumente des Opponenten in der Dispu-
tation, die der respondierende Magister in der Haupterörterung

1 Sancti Thomae opera, Parisiis 1660, tom. VII.
 
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