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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0075
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Studien zur Spätscholastik. I.

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schwärmt sind von massenhaften Ergänzungssätzen (correlaria) mit
Begründung, von Erweiterungsfragen (dubia), und deren Lösungen,
von einleuchtenden Wahrscheinlichkeitssätzen (opiniones probabües)
und Zitaten (autoritates), so ergibt sich das Bild eines äußerst schwer-
fälligen Mechanismus, der sich kaum noch übersehen läßt. Seine
ganze Unbehilflichkeit tritt erst ins rechte Licht beim Vergleich
mit der genialen, völlig selbstherrlichen und in der Tat modern
anmutenden Freiheit, mit der Duns Skotus in dem opus Oxoniense
dieselbe Materie abhandelt: in wechselnder Form je nach der
Bedeutung und Schwierigkeit des Gegenstandes, unter Verzicht
auf alle syllogistische Spielerei, unter Beschränkung allein auf die
großen wissenschaftlichen und religiösen Kontroversen.
Den Schluß jeder Quästio bildet wiederum eine Scheinargumen-
tation: die Auflösung der im Präludium aufgesteilten Gegenargu-
mente (ad rationes principales), wie sie das dialektische Schema
erfordert. Würde der Schwerpunkt der Erörterung in diesen Teil
verlegt, der dann die Überwindung der Gegensätze in einer höheren
Einheit enthalten müßte, so ließe der Gedankenfortschritt sich
weit einfacher und einleuchtender gestalten. Statt dessen ist das
Interesse durch die Argumente des zweiten Teiles in Wahrheit
erschöpft, und es folgt ein leeres zu-Ende-Haspeln der logischen
Maschinerie mit häufigen Wiederholungen; diese Anordnung be-
währt sich um so weniger, als häufig die Fragestellung der Quaestio
von vornherein gar nicht eine runde Verneinung und Bejahung
ermöglicht, so daß das dialektische Schema nur gewaltsam fest-
gehalten werden kann* 1. Wohltätig wirkt dem allen gegenüber das
vereinfachte Schema der abbreviationes zur Physik: da wird jedes
Buch knapp und klar in Traktate eingeteilt, an deren Spitze die
wichtigsten Argumente des Aristoteles und Averroes aufgeführt
werden; die unmittelbar folgende Aufstellung erläuternder Quae-
stionen des Marsilius entspricht dem wesentlichen Inhalt dieser
Argumente; ihre Abhandlung erfolgt zwar in der üblichen Form
verschiedenen „Artikel“ einer Quaestion oder sogar in deren Unterteilen
(partes).
1 Das oben geschilderte Schema findet sich mit gewissen Abweichungen
auch bei Gregor von Rimini, der die Erledigung der rationes principales meist
knapper ab tut als M. v. I., und bei Peter d’Ailly, der ausführliche Prunkreden
als Einleitungsvorlesungen jedem Buche des Sentenzenkommentars voran-
stellt und sich mit weit weniger quaesliones begnügt als M. v. I.; beide zählen
ihre Quästionen nach den „Distinktionen“ des Magisters, was unser Autor
unterläßt. (Drucke: Gregor: Venedig 1503, Peter v. Ailly: Straßburg 1470.)
 
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