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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0076
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76

Gerhard Ritter:

der syllogistisch bewiesenen Lehrsätze mit Vorbemerkungen, Gegen-
argumenten nebst Auflösung, Nebensätzen und Zweifeln (dubia),
aber doch weit rascher und handlicher als in dem theologischen
Werke.
Bei dieser Vereinfachung mag außer dem Charakter des kurzen
Lehrbuches noch ein tieferer Grund mitwirken; denn auch die
Abhandlung de generatione et corruptione ist immerhin erheblich
weniger umständlich gebaut als der Sentenzenkommentar. Es ist
klar, daß die ganze streng syllogistische Methode des Argumen-
tierens auf der deduzierenden Ableitung des Lehrinhalts aus fest-
stehenden Vordersätzen beruht, die ihrerseits durch Autoritäten
oder Vernunftaxiome gestützt sind. So sehr eine solche Methode
der metaphysisch-theologischen Systembildung zu Hilfe kam, so
wenig paßte sie im Grunde auf das naturwissenschaftliche Er-
kennen. Häufig lassen sich denn auch die physikalischen Lehr-
sätze des Marsilius nicht aus autoritativen Äußerungen des Aristo-
teles und seines Kommentators Averroes ableiten — sei es, daß sie
der späteren arabischen Tradition, sei es, daß sie der Beobachtung
neuerer Scholastiker seit Albert dem Großen entstammen. In
solchen Fällen wird dann regelmäßig versucht, eine Übereinstim-
mung wenigstens mit Prinzipien des Stagiriten nachzuweisen;
häufig wird aber das ganze syllogistische Schema über Bord gewor-
fen und einfach der Erfahrungsbeweis (per experientiam) angerufen1.
Marsilius ist sich auch theoretisch mit Aristoteles klar darüber,
daß der Induktionsbeweis, der aus den Wirkungen auf die Ursachen
schließt, in der Naturphilosophie ein besseres Hecht habe, als die
umgekehrte Demonstration, die von den Ursachen zu den Wir-
kungen vorschreiten will; jene Beweismethode stützt sich auf die
unmittelbare Erfahrung (experientia sensibilis); die Erkenntnis
der Ursachen dagegen sei stets eine abgeleitete, obgleich die wissen-
schaftlich wertvollere2. Sie greift also bereits über den Bahmen
der rein physikalischen Wissenschaft hinaus. Damit ist gewiß
nicht eigentlich der Gegensatz zwischen deduktiver und induktiver
Methode bezeichnet; indessen gewinnen diese Sätze doch ihre
1 Das deutlichste Beispiel bildet die anti-aristotelische Lehre vom
impetus, Druck nr. 13, Bl. 80/1. S. darüber unten S. 104 ff.
2 Druck nr. 13, Bl. 3, a: Sed dices: secundum quem processum [nämlich:
a causis ad causata oder ab effectibus ad causas] oportet procedi ordine doc-
trine in scientia naturali? Dico, quod secundum processum secundum, quia
oportet prius ex effectibus demonstrare causas esse et tune oportet tales effectus
esse propter tales causas usw. Verbindung mit der experientia: ibid. Bl. 3, c.
 
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