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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0080
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Gerhard Ritter:

immer nur als Sonderfall — eine grundsätzliche Umgestaltung des
peripatetischen Weltbildes wird nirgends beabsichtigt. Zu den
radikalen Geistern von der Art des Johannes de Bassolis1 und
Nicolaus d’Autrecourt hat unser Philosoph zweifellos nicht gehört.
Unter den naturwissenschaftlichen Einzelproblemen, an denen
sich der Scharfsinn der Pariser Modernen erprobte, steht das
Problem des Unendlichen in erster Linie. Das hochentwickelte
logische Abstraktionsvermögen, ihr bestes Rüstzeug, bewährte sich
diesem Gegenstand gegenüber am meisten. In der Lehre des
Aristoteles wurde das Unendliche als rein mathematische (geo-
metrische) Hilfsvorstellung anerkannt; als physikalische Wirk-
lichkeit aber blieb jede Größe durch die Begrenztheit des sphäri-
schen Himmelsraumes auf eine endliche Ausdehnung beschränkt.
Das unendlich Große wurde sowohl als unrealisierte Möglichkeit
(Suvagei, in potentia) der Übersteigerung jeder denkbaren Größe,
wie als Wirklichkeit (in actu) geleugnet. Dagegen ließ der Philosoph
die theoretische Möglichkeit einer ständig fortgesetzten Teilung
der Materie gelten; auch der kleinste Teil sollte noch teilbar sein.
Das bedeutete freilich nicht die Realität solcher Geteiltheit in
unendlich kleine Teile. Vielmehr legte Aristoteles Wert darauf,
in Polemik gegen den Atomismus die Vorstellung zu bekämpfen,
als ob die physikalischen Körper aus unteilbar kleinen Punkten,
Linien und Oberflächen sich zusammensetzen ließen. Demgegen-
über blieb der Zahlbegriff nach unten begrenzt: die Eins erschien
als kleinste Zahl; nach oben gab es keine Grenze des Zählens. Ent-
sprechend war die Zeit (als das gezählte Maß der Bewegung in
bezug auf das Früher und Später2) und damit die Bewegung als
das allgemeinste Prinzip der Natnr von unbegrenzter Dauer.
Auf dem Grunde dieser Überlieferungen bildeten sich die Lehr-
meinungen der Scholastik. Die Verwerfung der Atomistik wurde
fast einstimmig festgehalten, wenn auch einige Außenseiter, wie
Robert Holkot und Nicolaus d’Autrecourt, die epikuräische Lehre
von den Atomen erneuerten. Duns Skotus und Thomas von Brad-
wardina lieferten die scharfsinnigsten, meist mathematischen Argu-
mente gegen diese Lehre. Auch Marsilius von Inghen bewegte sich
im Fahrwasser ihrer Tradition, die von Okkam und Albert von
Sachsen durchaus festgehalten war. Er zählt alle die Argumente
1 Über ihn s. Duhem II, 373 ff., 416/7.
2 6 y^pövoc, dcpiF[Dp eöti y.ivqazMQ xocxa to TtpoTepov xai. ucnrspov. Überweg-
Praechter Grundriß I11, 400. Ferner Duhem II, 4 — 7.
 
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