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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0082
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82

Gerhard Ritter:

Möglichkeit des unendlich kleinen Körpers bringt Marsilius bei. Er
untersucht die Qualitätsveränderungen, die sich bei fortgesetzter
Teilung ergeben. Nimmt man die absolute Größe der Qualität
(z. B. der Wärme) als unveränderlich trotz der Teilung an, so
ergibt sich eine Antinomie. Denn einerseits würde das unendlich
Kleine die endliche Anfangsintensität aufweisen müssen, anderer-
seits wäre dieselbe Intensität, auf eine unendlich verkleinerte Aus-
dehnung gebracht, der Wirkung nach als unendlich gesteigert anzu-
nehmen. Setzt man dagegen voraus, daß die Verminderung der
Extension auch eine proportionale Schwächung der Intensität des
Qualitativen zur Folge hat, so würde die Qualität des unendlich
Kleinen unendlich gering, d. h. vernichtet sein; das indivisibile
müßte mit dem Aufhören jeder Eigenschaft und Wirkung auf-
hören, ein ,,Etwas“ (quäle) zu sein1.
Aber damit war das Problem keineswegs erschöpft. Schon die
aristotelische Anerkennung der unendlich fortgesetzten Teilung bei
gleichzeitiger Ablehnung des unendlich kleinen Teils mußte auf den
geheimen Doppelsinn aufmerksam machen, der im Begriff des
Unendlichen steckt. Die Erörterung dieses Problems entwickelte
sich zunächst an der Theorie des unendlich Großen, liier stießen
antike und christliche Weltvorstellung unmittelbar aufeinander.
Aristoteles hatte das unendlich Große als Möglichkeit wie als Wirk-
lichkeit geleugnet, Averroes die Wirklichkeit als unbedingte Kon-
sequenz der Möglichkeit hingestellt und beide miteinander ver-
worfen. Die ganze Scholastik mühte sich ab, dieses endliche Welt-
bild mit dem unendlichen Schöpferwillen des christlichen Gottes in
Einklang zu bringen. Die Mehrzahl der antithomistischen Dok-
toren suchte zwischen Bejahung und Verneinung der aristotelischen
Lehre einen Mittelweg: wie gewöhnlich mit Hilfe neuer scholasti-
scher Distinktionen. Man unterschied zwischen einer Möglichkeit
des Unendlichen in facto esse, d. h. der Möglichkeit abschließender
Bealisation, und einer potentia in fieri, bei der das Unendliche immer
ein Ziel der Bewegung blieb, ein bloßes ,,Mehr-als-Endlich“. Die
einzelnen Färbungen dieser, vor allem durch Duns Skotus, R.
Bakon und W. Burley geförderten Überlegung2 interessieren hier
nicht; sie erinnern oft lebhaft an die Versuche der Philosophie
unserer Tage, die unendliche Lebensbewegung in Begriffen zu
erfassen, noch deutlicher an die kantische Antinomie zwischen dem
1 de gener. et corr. 1. I, qu. 20, Druck nr. 6, Bl. k 4 ff.
2 Vgl. darüber Duhem II, 18 ff.
 
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