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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0084
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84

Gerhard Ritter:

Rirnini, in dem das christliche Motiv der Allmacht Gottes am mäch-
tigsten gewirkt zu haben scheint. Mit ungewöhnlichem Aufgebot
von Scharfsinn, in Gedankengängen, die zuweilen an Begriffs-
bildungen der modernen Mathematik zu streifen scheinen, suchte
er die logischen Schwierigkeiten zu beseitigen, die sich letzten
Endes alle aus dem Doppelsinn des vollendeten und des unvoll-
endeten Unendlichen ergaben1. Da Gregor als Theologe stark auf
Marsilius von Inghen gewirkt hat, ist es besonders wichtig, die
Meinung unseres Philosophen in diesen Fragen kennen zu lernen.
Mit großer Klarheit und Ausführlichkeit, weit eindeutiger als
in dem allzu knappen physikalischen Abriß, wird das Problem im
ersten Buche des Sentenzenkommentars, in Frage 42 abgehandelt
— unzweifelhaft einem klassischen Musterstück „moderner“ Natur-
philosophie. Mit absoluter Schärfe trennt Marsilius die Erkenntnis
des lumen naturale, deren beide Quellen nach Aristoteles angegeben
werden, von der Glaubenserkenntnis. Das Dasein Gottes ist auf
natürlichem Wege beweisbar, nicht seine Allmacht. Vielmehr wird
die naturhafte Gebundenheit des aristotelischen primus motor uner-
bittlich hell beleuchtet: er ist an das einmal gesetzte Maß der
Weltbewegung gebunden, unfähig zur Schöpfung und Vernichtung,
zur Unterbrechung seiner erhaltenden Tätigkeit, besitzt nicht die
Freiheit, das Entgegengesetzte zu wollen und hat eine begrenzte
Kraft des Wirkens. Gewiß: das alles sind Irrtümer vom Stand-
punkt des Glaubens; aber sie ergeben sich völlig konsequent aus
den Voraussetzungen der natürlichen Erkenntnis2. Die Schöp-
fung philosophisch beweisen zu wollen, ist nicht leichter, als zu
beweisen, daß ein Esel fliegen kann.3 Allerdings sind ansehnliche
1 Vgl. darüber die Einzelangaben bei Duhem II, 385 ff.
2 Verum est, quod in multis horum deficit lumen naturale a catholica
veritale, sed experientia et principia, quibus raiiones naturales innituntur, ad
altiora deducere non possunt. 1. c. Bl. 179, a.
3 1. c. Bl. 177, c. Ganz analoge Ausführungen lib. sent. II qu. 1, art. 2
(sehr gründlich) und abbrev. phys. Bl. 78 — 79. Die thomistische Unterschei-
dung der göttlichen virtus separata a magnitudine, die im Unterschiede von
der virtus extensa in magnitudine unendlich, d. h. frei im Sinne der Willkür
sein sollte, erklärt Marsilius für nutzlos; Aristoteles würde auch diese einge-
schränkte Bejahung der willkürlichen Allmacht nicht anerkennen (1. c. Bl.
78, b, Terne 1 3). — Die aristotelischen Gründe für die ewige Dauer der Welt-
bewegung „dürfen einen katholischen Sinn nicht bewegen“, und wenn sie
noch viel stärker wären! Denn: 1. sind sie sophistisch. 2. quod ad hoc ten-
dunt, ut mens humana iudicia dei ac divine voluntatis secreta immensa et pro-
funda, scilicet quare quandoque molum facit et non ante, cum deus sit omnipotens,
 
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