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Gerhard Ritter:
des unendlich Großen und unendlich Wirksamen in actu rational
beweisbar ist1. Wir erhalten zunächst eine Definition des ein-
geschränkt und uneingeschränkt Unendlichen, die sich ganz ähn-
lich im physikalischen Abriß findet und ausdrücklich einer älteren,
minderwertigen Definition gegenüber gestellt wird2; es ist leicht
zu erkennen, daß es sich hierbei um die von Gregor von Rimini
eingeführten Verbesserungen handelt3. Unter den üblichen Be-
weisen für die Möglichkeit der Schöpfung des actu Unendlichen,
die Marsilius wiedergibt, spielt im Sentenzenkommentar die Haupt-
rolle das Beispiel des Gottes, der in unendlich kleinen Teilen einer
Stunde unendlich viele Steine hervorbringt, in dem Abriß zur
Physik die ebenfalls herkömmliche und ähnlich schon von Alberi
von Sachsen angestellte4 Untersuchung, ob eine unendlich lange
Schraubenlinie verwirklicht werden könne, die in immer dichteren
Windungen (die gegenseitigen Abstände der Windungen in geo-
metrischer Progression abnehmend) um einen zylindrischen Körper
herumgeführt wird5. Das Ergebnis der Betrachtung ist in beiden
Fällen das gleiche: nur im eingeschränkten (synkategoreumatischen)
Sinne kann von einem Unendlichen die Rede sein. Denn die
unendliche Teilung, um die es sich in beiden Fällen handelt, ist
ihrem Wesen nach niemals de facto zu Ende zu führen; keiner
der Teile kann der letzte sein, und nur im distributiven Sinne,
d. h. im Hinblick auf jeden einzelnen Teil, nicht aber kollektiv
kann von einer Gesamtheit „aller“ Teile die Rede sein, eben weil
diese Gesamtheit keinen Abschluß besitzt6. Die logischen Wider-
1 Inhalt des art. 3 der qu. 42; 1. c. Bl. 18Övff.
2 Verworfen wird die Definition des „synkategorematisch“ Unendlichen:
Aliquantum et non tantum quin tnaius, weil sie auch auf Teile einer endlichen
Größe paßt; die neuere Definition lautet: Aliquantum et quantumlibet maius.
1. c. Bl. 180, c. Ähnlich in abbrev. phys. Dort lautet die ältere Definition:
[Aliquantum], cuius nihil est extra, die verbesserte: Tantum quid est, cuius
qualitatem accipientibus semper contingit aliquid ultra accipere non recipiendo
idem. (1. c. Bl. 24, c); an anderer Stelle (BI. 25, d) lauten beide Definitionen
ebenso wie die des Sentenzenkommentars. Das „kategorematisch“ Unend-
liche heißt in beiden Werken einfach Extensum sine termino.
3 Gregor verwirft die in voriger Anm. zuerst genannte Definition und
ersetzt sie durch Quantocunque finito majus. Duhem II, 388/9.
4 S. Duhem II, 43.
5 Druck nr. 13, Bl. 23, b — d.
6 lib. sent. I, 1. c. Bl. 182, a: Quamvis deus omnes partes continui noverit
capiendo ,,omnes“ distributive, tarnen contradictionem implicat, quod omnes
noverit sumendo ,,omnes“ collcctive. (concl. 9) Auch diese Distinktion ist tra-
ditionell und schon bei Gregor von Rimini u. Albert v. Sachsen zu finden.
Gerhard Ritter:
des unendlich Großen und unendlich Wirksamen in actu rational
beweisbar ist1. Wir erhalten zunächst eine Definition des ein-
geschränkt und uneingeschränkt Unendlichen, die sich ganz ähn-
lich im physikalischen Abriß findet und ausdrücklich einer älteren,
minderwertigen Definition gegenüber gestellt wird2; es ist leicht
zu erkennen, daß es sich hierbei um die von Gregor von Rimini
eingeführten Verbesserungen handelt3. Unter den üblichen Be-
weisen für die Möglichkeit der Schöpfung des actu Unendlichen,
die Marsilius wiedergibt, spielt im Sentenzenkommentar die Haupt-
rolle das Beispiel des Gottes, der in unendlich kleinen Teilen einer
Stunde unendlich viele Steine hervorbringt, in dem Abriß zur
Physik die ebenfalls herkömmliche und ähnlich schon von Alberi
von Sachsen angestellte4 Untersuchung, ob eine unendlich lange
Schraubenlinie verwirklicht werden könne, die in immer dichteren
Windungen (die gegenseitigen Abstände der Windungen in geo-
metrischer Progression abnehmend) um einen zylindrischen Körper
herumgeführt wird5. Das Ergebnis der Betrachtung ist in beiden
Fällen das gleiche: nur im eingeschränkten (synkategoreumatischen)
Sinne kann von einem Unendlichen die Rede sein. Denn die
unendliche Teilung, um die es sich in beiden Fällen handelt, ist
ihrem Wesen nach niemals de facto zu Ende zu führen; keiner
der Teile kann der letzte sein, und nur im distributiven Sinne,
d. h. im Hinblick auf jeden einzelnen Teil, nicht aber kollektiv
kann von einer Gesamtheit „aller“ Teile die Rede sein, eben weil
diese Gesamtheit keinen Abschluß besitzt6. Die logischen Wider-
1 Inhalt des art. 3 der qu. 42; 1. c. Bl. 18Övff.
2 Verworfen wird die Definition des „synkategorematisch“ Unendlichen:
Aliquantum et non tantum quin tnaius, weil sie auch auf Teile einer endlichen
Größe paßt; die neuere Definition lautet: Aliquantum et quantumlibet maius.
1. c. Bl. 180, c. Ähnlich in abbrev. phys. Dort lautet die ältere Definition:
[Aliquantum], cuius nihil est extra, die verbesserte: Tantum quid est, cuius
qualitatem accipientibus semper contingit aliquid ultra accipere non recipiendo
idem. (1. c. Bl. 24, c); an anderer Stelle (BI. 25, d) lauten beide Definitionen
ebenso wie die des Sentenzenkommentars. Das „kategorematisch“ Unend-
liche heißt in beiden Werken einfach Extensum sine termino.
3 Gregor verwirft die in voriger Anm. zuerst genannte Definition und
ersetzt sie durch Quantocunque finito majus. Duhem II, 388/9.
4 S. Duhem II, 43.
5 Druck nr. 13, Bl. 23, b — d.
6 lib. sent. I, 1. c. Bl. 182, a: Quamvis deus omnes partes continui noverit
capiendo ,,omnes“ distributive, tarnen contradictionem implicat, quod omnes
noverit sumendo ,,omnes“ collcctive. (concl. 9) Auch diese Distinktion ist tra-
ditionell und schon bei Gregor von Rimini u. Albert v. Sachsen zu finden.