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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0088
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88

Gerhard Ritter:

inkonsequente Abweichung verderbt habe, wie Ddhem irrig aus
einer Stelle des physikalischen Abrisses schließt. Das Ergebnis
der Betrachtungen ist vielmehr dies: die unendliche Ausdehnung,
die unendliche Teilung des continuum und die unendlich große
Zahl existieren in actu weder im „synkategoreumatischen“ noch
im „kategoreumatischen“ Sinne1; rein natürlich gesprochen, d. h.
ohne Annahme einer göttlichen Allmacht, ist auch die Erschaffung
des unendlich Großen nicht möglich. Aristoteles würde sagen, daß
es nichts größeres geben könne, als das begrenzte Universum2.
Wird indessen die göttliche Allmacht eingeräumt, so läßt sich die
Erschaffung des unendlich Großen nur im „synkategoreumatischen“
Sinne als möglich denken3. In diesem letzteren Sinne, und nur in
diesem, existiert tatsächlich ein „Unendliches“: es ist die unendlich
lange Linie, d. i. die Schraubenlinie mit proportional sich ver-
engernden Windungen4; die unendliche Teilbarkeit jeder Größe
und die unendlich große Zahl sind konsequenterweise gleichfalls
möglich im „eingeschränkten“ Sinne der endlosen Fortsetzung des
teilenden bzw. zählenden Aktes. Die unendliche Dauer der gött-
lichen Allmacht ist rational beweisbar, die göttliche Allmacht
selber nur durch den Glauben. Eine unendliche Bewegung gibt es
nur in dem Sinne, daß zu aller wirklichen Zeit Bewegung war und
sein wird.
Man sieht: hier werden fast alle aristotelischen Bestimmungen
mit Hilfe des synkathegoreumatice festgehalten. Die etwas eilige
und unvollständige Gegenüberstellung eines Teils dieser Sätze in
dem knappen „Abriß“ hat Duhem zu der Annahme verführt,
Marsilius behaupte „kategorisch“, also inkonsequent die Existenz
1 abbrev. phys., 1. c. Bl. 26, a: Sincathegoreumati.ee hec [conclusio] est.
falsa\ infinitum in magnitudine est... quod nihil est maius universo.
2 abbrev. phys. 1. c. Bl. 6, b: Loquendo naturaliter est dare maximuni
quod polest esse; patet, quod Aristoteles diceret, quod non polest esse maius uni-
verso.
3 ibid. Bl. 27, b: Infinitum corpus potest esse, tenendo infinitum sin-
cathegorematice, per potentiam divinam.
4 ibid., Bl. 23, d: Infinita est... linea girativa tenendo infinitum sin-
cathegorematice. Mißverständlich, weil ohne den (nach dem Zusammenhang'
aber als selbstverständlich vorausgesetzten) Zusatz syncathegorematice
heißt es Bl. 26, a: Infinita est longitudo, patet, quod infinita est linea girativa,
und Bl. 27, b: Infinita longitudo curva de facto est, patet de linea girativa.
Ähnliche Unklarheiten infolge übertriebener Kürze finden sich zahlreich in
dem „Abriß“.
 
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