Studien zur Spätscholastik. I.
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„Entstehen und Vergehen“ nur die vierte der Formen (minimum
per quod non) als zureichend gelten. Die Anwendung ist freilich in
diesem Falle reichlich künstlich: die genaue Lebensdauer des durch
normale Ursachen sterbenden Menschen soll durch das Mindest-
maß der Zeit bestimmt werden, die er nicht leben kann* 1: eine
Behauptung, die in ihrer Formulierung so gut wie sinnlos wirkt,
da von einem Kampf lebenserhaltender und -zerstörender Kräfte
nicht die Rede ist und von einer gegenseitigen Kompensierung
solcher Kräfte ja auch nicht sinnvoll die Rede sein kann. Um so
deutlicher zeigt das unglückliche Beispiel, wie fest die Schul-
formeln Alberts in der Denkgewohnheit unseres Autors verankert
waren. Doch scheint es in der Tat, daß hier eine erste Trübung
der ursprünglich so klar formulierten Regel begonnen hat, die dann
im Laufe des folgenden Jahrhunderts durch Mißverständnis und
formale Schulgewohnheiten zu vielfach arg verblassenden Formeln
führte2. Der Wert dieser jahrhundertelang fortdisputierten Lehren
für die Herausbildung des modernen Grenzbegriffes bleibt darum
doch bestehen.
Vielleicht noch folgenreicher für die Entwicklung der physi-
kalischen Begriffe war die umfangreiche, durch die gesamte nach-
thomistische Scholastik sich hinziehende Diskussion über Steige-
rung und Minderung der Formen (de intensione et remissione for-
marum). Es handelt sich dabei in der Hauptsache um die nähere
Bestimmung des Qualitativen im Verhältnis zum Quantitativen.
Ohne alle Färbungen und Wendungen der Debatte, deren natur-
wissenschaftliches Interesse erst durch Duhem klargelegt ist, hier
zu verfolgen, genügt es, das wichtigste der Gegensatzpaare heraus-
zuheben. Auf der einen Seite (bei Thomas, Heinrich von Gent,
Durandus u. a.) eine scharfe Unterscheidung zwischen Qualität
sunt meliores. Duhem hat das anscheinend so mißverstanden, als ob die
beiden letzten Formen den beiden ersten vorgezogen würden und schließt
daraus die genaue Übernahme der Formeln Alberts (1. c. II, 31). Aber auch in
der Schrift „de gen. et corr.“ erklärt M. v. I. seine zuerst genannte Erläuterung
des min. und max. quod non für die grammatice richtige gegenüber gewissen
aliter exponenles (Druck nr. 6, Bl. 0 4, verso, sp. 1; 1. II, qu. 17).
1 capiatur totum tempus medium inter primum instans sui esse et primum
instans sui non esse ... et est minimum tempus per quod homo non potest durare.
— 1. c., folg. BL, sp. 1. — Allgemeinere Erwägungen über die Grenzbestim-
mung gegeneinander wirkender Kräfte s. ibid. 1. I, qu. 19.
2 Besonders bei den italienischen Naturphilosophen und Humanisten.
S. darüber Duhem II, 35 ff.
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„Entstehen und Vergehen“ nur die vierte der Formen (minimum
per quod non) als zureichend gelten. Die Anwendung ist freilich in
diesem Falle reichlich künstlich: die genaue Lebensdauer des durch
normale Ursachen sterbenden Menschen soll durch das Mindest-
maß der Zeit bestimmt werden, die er nicht leben kann* 1: eine
Behauptung, die in ihrer Formulierung so gut wie sinnlos wirkt,
da von einem Kampf lebenserhaltender und -zerstörender Kräfte
nicht die Rede ist und von einer gegenseitigen Kompensierung
solcher Kräfte ja auch nicht sinnvoll die Rede sein kann. Um so
deutlicher zeigt das unglückliche Beispiel, wie fest die Schul-
formeln Alberts in der Denkgewohnheit unseres Autors verankert
waren. Doch scheint es in der Tat, daß hier eine erste Trübung
der ursprünglich so klar formulierten Regel begonnen hat, die dann
im Laufe des folgenden Jahrhunderts durch Mißverständnis und
formale Schulgewohnheiten zu vielfach arg verblassenden Formeln
führte2. Der Wert dieser jahrhundertelang fortdisputierten Lehren
für die Herausbildung des modernen Grenzbegriffes bleibt darum
doch bestehen.
Vielleicht noch folgenreicher für die Entwicklung der physi-
kalischen Begriffe war die umfangreiche, durch die gesamte nach-
thomistische Scholastik sich hinziehende Diskussion über Steige-
rung und Minderung der Formen (de intensione et remissione for-
marum). Es handelt sich dabei in der Hauptsache um die nähere
Bestimmung des Qualitativen im Verhältnis zum Quantitativen.
Ohne alle Färbungen und Wendungen der Debatte, deren natur-
wissenschaftliches Interesse erst durch Duhem klargelegt ist, hier
zu verfolgen, genügt es, das wichtigste der Gegensatzpaare heraus-
zuheben. Auf der einen Seite (bei Thomas, Heinrich von Gent,
Durandus u. a.) eine scharfe Unterscheidung zwischen Qualität
sunt meliores. Duhem hat das anscheinend so mißverstanden, als ob die
beiden letzten Formen den beiden ersten vorgezogen würden und schließt
daraus die genaue Übernahme der Formeln Alberts (1. c. II, 31). Aber auch in
der Schrift „de gen. et corr.“ erklärt M. v. I. seine zuerst genannte Erläuterung
des min. und max. quod non für die grammatice richtige gegenüber gewissen
aliter exponenles (Druck nr. 6, Bl. 0 4, verso, sp. 1; 1. II, qu. 17).
1 capiatur totum tempus medium inter primum instans sui esse et primum
instans sui non esse ... et est minimum tempus per quod homo non potest durare.
— 1. c., folg. BL, sp. 1. — Allgemeinere Erwägungen über die Grenzbestim-
mung gegeneinander wirkender Kräfte s. ibid. 1. I, qu. 19.
2 Besonders bei den italienischen Naturphilosophen und Humanisten.
S. darüber Duhem II, 35 ff.