Studien zur Spätscholastik. I.
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Ton diesem Landsmann kein Zweifel sein kann. Nur daß diese
Einzelheiten bei Albert in einem weiten und höchst originellen
Zusammenhang stehen, der in der abgekürzten Darstellung des
Marsilius nicht sichtbar wird.
Doch das Problem der Schwerkraft ist noch nicht erschöpft.
Handelt es sich um eine Fernwirkung des locus naturalis auf die
schweren Körper oder um eine diesen innewohnende besondere
virtus, vermöge deren sie dem Orte zustreben, an dem sie ihre
höchste Vollkommenheit erreichen ? Aristoteles hatte die letztere
These aufgestellt und die Unveränderlichkeit der virtus im fallenden
Körper bei abnehmender Entfernung vom locus naturalis behauptet.
Da er indessen die Beschleunigung der Fallgeschwindigkeit nicht
ganz eindeutig zu erklären verstand, waren die Commentatoren
verschiedener Ansicht. Okkam sprach von einer Fernwirkung des
Magneten auf das Eisen ohne vermittelnde Berührung einer species
magnetica1; ähnlich ließ sich die Anziehungskraft der Erde er-
klären. Seine Nachfolger Buridan und Albert zeigten sich in dieser
Frage wiederum konservativer in der Fortbildung aristotelisch-
averroistischer Traditionen, als der radikale inceptor. Sie hielten
fest an der virtus, die den fallenden Körper seinem natürlichen Orte
zutreibt, hauptsächlich aus dem Motive heraus, die Unveränder-
lichkeit der Stärke des Antriebs trotz wechselnder Entfernung vom
Erdboden begreiflich zu machen. Marsilius zeigt sich als ihr
getreuer Schüler. Von der Möglichkeit einer Fernwirkung hat er
keine Vorstellung. Streng hält er mit Aristoteles daran fest, daß
alle Bewegung durch Berührung (unmittelbare oder mittelbare)
des Bewegenden mit dem Bewegten geschehe, und führt das auch
für die Kraft des Magneten aus, der durch allseitige Ausstrahlung
(circulariter) seine virtus fortpflanze2. Was also den fallenden Stein
treibt, wohnt diesem unmittelbar inne: es ist einmal die Schwere
(gravitas) selbst, als causa instrumentalis, sodann die forma sub-
stantialis, die auf Erreichung des Ortes der höchstenVollkommenheit
1 Duhem il; 86. Kann man das wirklich als eine Vorbereitung des mo-
dernen Gravitationsgesetzes betrachten? Ich habe zuweilen doch den Ein-
druck, daß D. seine These von der Bedeutung der „Pariser“ Theorien des
XIV. Jhrh. für die moderne Naturwissenschaft überspannt.
2 abbrev. phys. 62; ähnlich für den Torpedofisch, die Strahlen der
Sonne und der Gestirne. Die magische Fernwirkung (von Paris nach Avignon!)
geschehe dagegen durch schnellreisende böse Geister mit göttlicher Zulassung.
- De gen. et corr., 1. II, qu. 16 heißt es, daß ein tactus des Bewegers mit
dem Bewegten „metaphorisch“ gesprochen notwendig sei.
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Ton diesem Landsmann kein Zweifel sein kann. Nur daß diese
Einzelheiten bei Albert in einem weiten und höchst originellen
Zusammenhang stehen, der in der abgekürzten Darstellung des
Marsilius nicht sichtbar wird.
Doch das Problem der Schwerkraft ist noch nicht erschöpft.
Handelt es sich um eine Fernwirkung des locus naturalis auf die
schweren Körper oder um eine diesen innewohnende besondere
virtus, vermöge deren sie dem Orte zustreben, an dem sie ihre
höchste Vollkommenheit erreichen ? Aristoteles hatte die letztere
These aufgestellt und die Unveränderlichkeit der virtus im fallenden
Körper bei abnehmender Entfernung vom locus naturalis behauptet.
Da er indessen die Beschleunigung der Fallgeschwindigkeit nicht
ganz eindeutig zu erklären verstand, waren die Commentatoren
verschiedener Ansicht. Okkam sprach von einer Fernwirkung des
Magneten auf das Eisen ohne vermittelnde Berührung einer species
magnetica1; ähnlich ließ sich die Anziehungskraft der Erde er-
klären. Seine Nachfolger Buridan und Albert zeigten sich in dieser
Frage wiederum konservativer in der Fortbildung aristotelisch-
averroistischer Traditionen, als der radikale inceptor. Sie hielten
fest an der virtus, die den fallenden Körper seinem natürlichen Orte
zutreibt, hauptsächlich aus dem Motive heraus, die Unveränder-
lichkeit der Stärke des Antriebs trotz wechselnder Entfernung vom
Erdboden begreiflich zu machen. Marsilius zeigt sich als ihr
getreuer Schüler. Von der Möglichkeit einer Fernwirkung hat er
keine Vorstellung. Streng hält er mit Aristoteles daran fest, daß
alle Bewegung durch Berührung (unmittelbare oder mittelbare)
des Bewegenden mit dem Bewegten geschehe, und führt das auch
für die Kraft des Magneten aus, der durch allseitige Ausstrahlung
(circulariter) seine virtus fortpflanze2. Was also den fallenden Stein
treibt, wohnt diesem unmittelbar inne: es ist einmal die Schwere
(gravitas) selbst, als causa instrumentalis, sodann die forma sub-
stantialis, die auf Erreichung des Ortes der höchstenVollkommenheit
1 Duhem il; 86. Kann man das wirklich als eine Vorbereitung des mo-
dernen Gravitationsgesetzes betrachten? Ich habe zuweilen doch den Ein-
druck, daß D. seine These von der Bedeutung der „Pariser“ Theorien des
XIV. Jhrh. für die moderne Naturwissenschaft überspannt.
2 abbrev. phys. 62; ähnlich für den Torpedofisch, die Strahlen der
Sonne und der Gestirne. Die magische Fernwirkung (von Paris nach Avignon!)
geschehe dagegen durch schnellreisende böse Geister mit göttlicher Zulassung.
- De gen. et corr., 1. II, qu. 16 heißt es, daß ein tactus des Bewegers mit
dem Bewegten „metaphorisch“ gesprochen notwendig sei.