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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0108
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108

Gerhard Ritter:

Schwung der oberen Teile des Balles dem bereits aufwärtsdrängen-
den impetus der unteren zu widerstehen vermag1. Vor allem aber
läßt sich so die von Aristoteles behauptete, durch Buridan und
Albert ignorierte, aber von Oresme wieder anerkannte angebliche
Erfahrungstatsache erklären, daß das Wurfgeschoß einige Zeit nach
dem Abschuß sich schneller bewegt, als unmittelbar zu Beginn
des Fluges. Durch die Annahme, daß erst nach und nach die
sämtlichen Teile des Geschosses vom impetus erfaßt werden, läßt
sich diese Beobachtung besser erklären, als durch die aristotelische
Mitwirkung der Luft2. Sollte die Hypothese des Marsilius wirklich
durch ähnliche Betrachtungen der scientia de ponderibus angeregt
sein, wie Duiiem vermutet3, so hat sie doch jedenfalls in seiner
Fassung auf die italienische, deutsche und französische Natur-
wissenschaft bis zum 16. Jahrhundert weitergewirkt4; es scheint
also, daß wir in ihr ein Kennzeichen besitzen, um die Spuren seines
Einflusses auf die physikalischen Lehrer der „modernen“ Schule
zu verfolgen.
Gegenüber der Erkenntnis Okkams kann man diese ganze
Lehre vom impetus als einen Rückschritt auffassen; immerhin
führte sie näher an den Begriff der Trägheit heran, als die aristo-
telische Tradition. Das wird besonders deutlich aus dem engen
Zusammenhang, den Marsilius zwischen der Masse des bewegten
Körpers und der Stärke des impetus herstellt: je größer die Masse,
1 ]. c. Bi. 76.
2 1. c. Bi. 81 (letztes Blatt): Licet impetus in instantiprimo, quo proiciens
desinit tangere proiectum, esset fortissimus, tarnen non eque bene est applicatus
ad ipsum movere, sed applicatur continue melius ad aliquam distantiam ....
Hoc est natura impetus, successive melius applicari ad aliquam distantiam.
Impetus in principio est notabiliter formalis impressus in partem, quam tetigit
proiciens, sed in partes distantiores adhuc est parvus et remissus usw.
3 1. c. III, 96, I, 281, 286. Die von D. angeführten Vergleichstellen aus
dem anonymen tractatus de ponderibus überzeugen indessen durchaus nicht.
In dem tractatus ist die Rede nicht von dem impetus, sondern von der kompri-
mierenden Wirkung eines äußeren Anstoßes auf einen Körper, und an anderer
Stelle von dem schwersten Punkte des gestoßenen Körpers, der immer zuerst
vorandränge: nichts davon findet sich bei M. v. I.! Ebensowenig spricht er
von der Wirkung des Stoßes im flüssigen oder elastischen Medium; die von
Duhem hier gesuchte Analogie seiner Hypothese zu modernen Theorien trifft
also nicht zu.
4 Duhem III, 97, 100ff. Besonders interessant ist es, daß die Theorie
des impetus mit deutlichen Anklängen an M. v. I. sich ebensogut bei dem
Vertreter der via antiqua (Konrad Summenhart), wie bei dem „Modernen“
Fr. Sunczel findet!
 
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