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Gerhard Ritter:
15. Jahrhundert: Nikoleto Vernias von Chieti, um 1490 zu Padua
Lehrer der Naturwissenschaften als Nachfolger des Gaetan von
Tiena, einer der eifrigsten Averroisten, der die Lehre der „Pariser“
vom impetus heftig bekämpfte und Albert von Sachsen nicht
anders als Albertus parvus und Albertutius nannte1, trug doch nicht
das geringste Bedenken, die Schrift unseres Autors über „Werden
und Vergehen“ in Druck zu geben. Ja, er hoffte, gerade sie werde
den allmählich in Verfall geratenen Aristotelismus wieder zu Ehren
bringen2! Aber auch der moderne Leser wird kaum anders urteilen.
Neben Aristoteles tritt freilich auch der massenhafte, seit der Spät-
antike (Heron!), den Arabern, Bacon und Albert dem Großen
angesammelte Stoff von Erfahrungstatsachen und exper mentell
gewonnenen Einsichten gelegentlich hervor3, und die fruchtbaren
Keime einer späteren Entwicklung, die in der nominalistischen
Oppositionsstellung gegen den Thomismus begründet liegen, haben
sich uns mehrfach gezeigt. Aber gerade die genauere Betrachtung
dieser Dinge hat uns immer wieder zur Vorsicht gegenüber den
glänzenden Thesen Duhems und vor allem gegen eine Verall-
gemeinerung seiner Ergebnisse gemahnt. Der Grundzug der Physik
des Marsilius ist unzweifelhaft konservativ, und wenn schon die
Pariser Schultradition infolge der Einseitigkeit vorwiegend logischer
Forschungsmethoden im 15. Jahrhundert zu verkümmern begann,
so ist erst recht schwer vorstellbar, wie aus den naturwissenschaft-
lichen Schriften des Marsilius ein frisches, neues Leben hätte empor-
sprießen können. Die Frage, mit der wir an die Betrachtung dieser
Dinge herangingen, ist im wesentlichen negativ zu beantworten.
Es sind freilich nicht die nominalistischen Grundsätze, überhaupt
keine erkenntnistheoretischen Vorurteile, die den Physiker Mar-
silius an der selbständigen Beobachtung der Natur hindern; es
ist einfach die erdrückende Macht der Tradition, der aristotelischen
Methoden insbesondere, es ist die Schwäche des eigenen Könnens,
die den Scholastiker im Bann des Schulwissens festhalten. Das
Mittelalter hat immer nur einzelne Sonderbegabungen hervor-
gebracht, die eigenwillig und stark genug waren, diesen ungeheuer
1 Über ihn s. Duhem II u. III Register.
2 Druck nr. 7, Widmungsblatt am Schluß.
3 Beispiele experimentaler Beweise: de gen. et corr. II, 9, art. 1: Ver-
dampfung von Quecksilber; ibid. I, 15, art. 1: Verdünnung der Luft und des
Wassers durch Erhitzung im Kolben; abbrev. phys. Bl. 32: Unmöglichkeit
des vacuum: der verstopfte Blasebalg läßt sich durch die Kraft von 100 Pferden
nicht aufbiegen. Ibid. Bl. 34 u. ö. Zitate aus Avempace, Averroes, Avicenna.
Gerhard Ritter:
15. Jahrhundert: Nikoleto Vernias von Chieti, um 1490 zu Padua
Lehrer der Naturwissenschaften als Nachfolger des Gaetan von
Tiena, einer der eifrigsten Averroisten, der die Lehre der „Pariser“
vom impetus heftig bekämpfte und Albert von Sachsen nicht
anders als Albertus parvus und Albertutius nannte1, trug doch nicht
das geringste Bedenken, die Schrift unseres Autors über „Werden
und Vergehen“ in Druck zu geben. Ja, er hoffte, gerade sie werde
den allmählich in Verfall geratenen Aristotelismus wieder zu Ehren
bringen2! Aber auch der moderne Leser wird kaum anders urteilen.
Neben Aristoteles tritt freilich auch der massenhafte, seit der Spät-
antike (Heron!), den Arabern, Bacon und Albert dem Großen
angesammelte Stoff von Erfahrungstatsachen und exper mentell
gewonnenen Einsichten gelegentlich hervor3, und die fruchtbaren
Keime einer späteren Entwicklung, die in der nominalistischen
Oppositionsstellung gegen den Thomismus begründet liegen, haben
sich uns mehrfach gezeigt. Aber gerade die genauere Betrachtung
dieser Dinge hat uns immer wieder zur Vorsicht gegenüber den
glänzenden Thesen Duhems und vor allem gegen eine Verall-
gemeinerung seiner Ergebnisse gemahnt. Der Grundzug der Physik
des Marsilius ist unzweifelhaft konservativ, und wenn schon die
Pariser Schultradition infolge der Einseitigkeit vorwiegend logischer
Forschungsmethoden im 15. Jahrhundert zu verkümmern begann,
so ist erst recht schwer vorstellbar, wie aus den naturwissenschaft-
lichen Schriften des Marsilius ein frisches, neues Leben hätte empor-
sprießen können. Die Frage, mit der wir an die Betrachtung dieser
Dinge herangingen, ist im wesentlichen negativ zu beantworten.
Es sind freilich nicht die nominalistischen Grundsätze, überhaupt
keine erkenntnistheoretischen Vorurteile, die den Physiker Mar-
silius an der selbständigen Beobachtung der Natur hindern; es
ist einfach die erdrückende Macht der Tradition, der aristotelischen
Methoden insbesondere, es ist die Schwäche des eigenen Könnens,
die den Scholastiker im Bann des Schulwissens festhalten. Das
Mittelalter hat immer nur einzelne Sonderbegabungen hervor-
gebracht, die eigenwillig und stark genug waren, diesen ungeheuer
1 Über ihn s. Duhem II u. III Register.
2 Druck nr. 7, Widmungsblatt am Schluß.
3 Beispiele experimentaler Beweise: de gen. et corr. II, 9, art. 1: Ver-
dampfung von Quecksilber; ibid. I, 15, art. 1: Verdünnung der Luft und des
Wassers durch Erhitzung im Kolben; abbrev. phys. Bl. 32: Unmöglichkeit
des vacuum: der verstopfte Blasebalg läßt sich durch die Kraft von 100 Pferden
nicht aufbiegen. Ibid. Bl. 34 u. ö. Zitate aus Avempace, Averroes, Avicenna.