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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0112
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112

Gerhard Ritter:

wie andererseits an selbstevidente Prinzipien1. Es scheint, daß ihm
der Begriff einer Wissenschaft vorschwebte, die von induktiven
Grundlagen aufstieg, die allgemeine Gültigkeit ihrer zunächst nur
„kontingenten“ Sätze aber irgendwie aus evidenten rationalen
Prinzipien ableitete2. Dabei lag für ihn der Nachdruck fühlbar auf
den Erfahrungsbeweisen. Aber wenn er z. B. die Schwierigkeiten
darlegte, Gottes Wesenheit metaphysisch näher zu bestimmen, so
berief er sich nicht platterweise einfach auf die Unmöglichkeit der
natürlichen Erfahrung, der intellektiven Anschauung Gottes, son-
dern betonte viel nachdrücklicher die logischen Schwächen des
Versuches, mit rein syllogistischen Mitteln aus dem bloßen Begriff
der göttlichen Wesenheit anderes als Selbstverständlichkeiten
herauszuholen, und legte dar, wie in Wahrheit dieser Versuch nur
durch Übertragung von Abstraktionen kreatürlicher Dinge auf den
Schöpfer gelingen könne3. Im einzelnen bedürfte es noch der
genaueren Untersuchung, wie sich Okkam auf Grund seines „No-
minalismus“ prinzipiell zu dem Problem der Metaphysik gestellt
hat; ich kann nicht finden, daß diese Frage in der bisherigen Lite-
ratur befriedigend gelöst ist.
Man muß sich in diesen Dingen stets gegenwärtig halten, daß
aus dem Bannkreis der aristotelischen Überlieferung gar nicht so
ohne weiteres loszukommen war. War wirklich die Stellung des
großen Revolutionärs zu den metaphysischen Problemen unbedingt
maßgebend für seine Nachfolger ? Wenn die gesamte okkamistische
Schule der Metaphysik grundsätzlich abhold gewesen ist, wie kommt
es dann, daß auf den „modernen“ Universitäten, wie Heidelberg
und Erfurt, ebensogut wie auf allen andern die metaphysischen
Bücher des Stagiriten zu den wichtigsten Pflichtvorlesungen ge-
1 Definition der scientia: Est noticia evidens veri necessaria nata causari
per premissas applicatas ad ipsum per discursum syllogisticum. (In pr. libr.
sent. prol. qu. 2 K. — unvollst. Ausg. der Heidelberger Univ.-Bibl. von 1483.)
Ibid. G: Aliqua conclusio est demonstrabilis per se nota ita, quod ultimata reso-
lutio stat ad principia per se nota. Aliqua autem stat ad principia non per se
nota, sed ad principia nota tanturn per experientiam . . . sicut quod calor est
calefactivus usw.
2 1. c. AL-N: Erfahrung und logische Demonstration sollen Zusammen-
wirken : sicut si primo in ligno producatur calor per solem et post intendatur per
ignem, z. B. in dem Syllogismus: ,,Hec herba sanat, omnia agentia eiusdem
speciei specialissime sunt effectiva effeetuum eiusdem rationis, ergo omnis herba
eiusdem sp. sp. sanat“ zeigen die beiden Prämissen dieses Zusammenwirken.
3 L. c. S. ff. (art. 3).
 
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