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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0121
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Studien zur Spätscholastik. I.

121

So betrachtet zeigt die nominalistische Lösung des Univer-
salienproblems wieder alle ihre erkenntnistheoretischen Vorzüge
gegenüber den älteren scholastischen Systemen. In metaphysischer
Hinsicht aber erscheint sie bei Marsilms weit harmloser als in der
kritischen und zerstörenden Handhabung durch Okkam. Die
Universalien sind keine außermentalen Dinge; aber sie erfassen
den „wesentlichen“ Zusammenhang der Dinge. Damit begründen
sie echte Wissenschaft von der Wirklichkeit. Gewiß gibt es im
einzelnen noch manche Schwierigkeit, die beiden Erkenntnis-
quellen der „Erfahrung“ und abstrakten Vernunft miteinander in
Einklang zu bringen. Das zentrale Problem dieser Art, die Lehre
von der natürlichen Gotteserkenntnis, werden wir bei der Betrach-
tung des theologischen Systems sogleich kennen lernen. Aber
schon jetzt läßt sich übersehen, in welcher Richtung die Lösung
der eingangs gestellten Frage zu suchen ist: wie es nämlich möglich
war, daß die „moderne“ Schultradition trotz ihres Nominalismus
den gesamten Umfang der peripatetischen Wissenschaft als Lehr-
stoff weiter verarbeitete. Es ist eine Frage von größter Bedeutung
für die Universitätswissenschaft des 15. Jahrhunderts, und ihre
völlige Aufhellung durch ergänzende Untersuchungen verwandter
Werke dringend zu wünschen1. Sollte die Metaphysik der Erfurter
Lehrer Luthers wesentlich anders ausgesehen haben ?
Wer seine geschichtliche Anschauung von den geistigen Strö-
mungen einer Zeit in der Hauptsache an den großen Erscheinungen
der Denker ersten Ranges orientiert, wird leicht in die Gefahr
kommen, die Zähigkeit der Tradition in den Regionen des schul -
mäßigen Wissenschaftsbetriebes zu unterschätzen oder zu über-
sehen. Nun ist es gewiß die schönere Aufgabe des Geschichts-
schreibers, ja in tieferem Sinne seine höchste und endgültige, die
Entfaltung des Geistes in seinen klassischen Epochen darzulegen,
nicht in allem Unwesentlichen, um mich scholastisch auszudrücken,
der „kontingenten“ Wirklichkeit. Aber gerade der Historiker wird,
vielleicht nicht ohne einen gewissen Gegensatz zum zünftigen Philo-

quia calefaciens determinatum calefactibile calefacit et calefaciens ci determmato
calejactivo calefit sic quod non ab alio; vocandum est calefactivum omnia, que
active concurrerunt ad eius calefactionem, et sic in aliis.
1 In Betracht kämen vor allem Buridan und Gregor von Rimini. Der
letztere entwickelte offenbar ganz ähnlich wie M. v. I. die aristotelische Meta-
physik auf der Grundlage der okkamistischen Erkenntnislehre. (Vgl. Werner
III, 53ff.)
 
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