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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0123
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Studien zur Spätscholastik. I.

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menten, die tiefer liegen, als der Grund rationalen Denkens; die
Vernunft hat sich widerspruchslos dem verstandesmäßig Unbegreif-
lichen zu fügen.
Man hat oft betont, daß in dieser ,,Selbstzersetzung“ der an
Aristoteles orientierten Theologie der Beginn des modernen Den-
kens begründet liege, in dem sich das Wissen vom Glauben emanzi-
piert habe. Wenn wir in Marsilius einen typischen Vertreter der
akademischen Theologie nominalistischer Richtung erblicken dür-
fen, so ist hier nichts geringeres als die Frage zu behandeln: Welche
Stellung nehmen diese Universitätstheologen innerhalb des erwähn-
ten Zersetzungsprozesses ein? Verbreitern sie oder verkleben sie
die klaffenden Risse des theologischen Gedankengebäudes, das in
Renaissance und Reformation dereinst auseinanderbersten sollte ?
Aus den physikalischen Schriften unseres Autors wissen wir
bereits, daß auch er den Umkreis der beweisbaren Aussagen über
das göttliche Wesen gegenüber der älteren Theologie einschränkte
(s. o. S. 84 f.): die Unendlichkeit der göttlichen Macht, die Welt-
schöpfung aus dem Nichts und ähnliche Dogmen sind nicht rational
zu begreifen — also in der Hauptsache die Glaubenssätze von
Gottes schrankenloser Allmacht, die seit der Erneuerung augusti-
nischer Gedanken in den antithomistischen Systemen der Franzis-
kaner mit verstärkter religiöser Kraft zur Geltung gekommen
waren. Dagegen sollen das Dasein Gottes, seine Vollkommenheit,
seine Ewigkeit und Allwissenheit auf natürlichem Wege beweisbar
sein. Wie ist diese Mittelstellung metaphysisch begründet ?
Für den Erkenntnistheoretiker stellt sich die Frage nach der
Erkennbarkeit Gottes in der Form dar, ob ein zureichender d. h.
das Wesen Gottes erfassender, bestimmter Einzelbegriff im erken-
nenden Bewußtsein sich bilden lasse. Die Bejahung auf dem
Wege, daß die Einmaligkeit Gottes die Singularität seines Begriffes
bedinge, ist natürlich unzureichend; denn auch der Allgemein-
begriff kann eine nur einmal vorkommende Art oder Gattung
bezeichnen, ohne deshalb singulär im logischen Sinne zu sein1.
Vielmehr liegt die eigentliche Schwierigkeit der Frage darin, daß
alle „inkomplexen“ Einzelbegriffe, die Elemente unseres Urteilens,
irgendwie aus der sinnlichen Wahrnehmung herstammen müssen2.
1 Metaphys. ]. II, qu. 21 (Reg. nr. 69) a. 1, co. 1, 2, 7, 8, Bl. 116, c.
2 ibid. a. 2, supp.l: Omnis conceptus noster intellectwus fit mente vel
in mente a cognitione fantasmatorum. Zitat aus III. de anima: Nihil est in
in teile du, nisi prius fuerit in sensu.
 
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