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124

Gerhard Ritter:

Aus ihr führen im ganzen 4 Wege zur ,,inkomplexen“ Begriffs-
bildung: die Anschauung der in den phantasmata dargebotenen
(unbestimmten) Wahrnehmungen, die Abstraktion der Allgemein-
begriffe aus ihnen, die Bildung ,,kopulativer“ Begriffe zur Ver-
bindung der Urteilselemente und endlich (nach Aristoteles) der
,,Instinktbegriff“ des Tieres1. In jedem Falle wird die sinnliche
Wahrnehmung vorausgesetzt, und so ist nicht einzusehen, wie
„nach der üblichen Erklärung“ des Erkenntnisvorganges ein in-
komplexer Einzelbegriff in uns entstehen soll, ohne daß eine sinn-
liche Wahrnehmung der durch ihn „vertretenen“ Sache vorher-
gegangen ist2. Auch ist es aussichtslos, etwa einen durch Abstrak-
tion gewonnenen Allgemeinbegriff nachträglich durch irgendwelche
„Demonstration“ anschaulich machen und damit zum Einzel-
begriff umstempeln zu wollen3.
In der Tat liegt in diesen Schwierigkeiten der Grund für die
Tatsache, daß unsere Begriffe von Gott niemals zureichen, sein
Wesen völlig zu erfa sen. Einen inkomplexen bestimmten Einzel-
begriff Gottes in dem Sinne, wie wir etwa die sinnlich erfahrbare
Einzelsubstanz in ihrem „Wesen“ begreifen, gibt es nicht4. Die
Anschauung Gottes ist ja dem „Erdenpilger“ nicht möglich; erst
im jenseitigen „Vaterland“ wird sie eintreten. Darum sind alle
unsere irdischen Begriffe nicht fähig, Gott ganz zu begreifen: der
Begriff des Unendlichen übersteigt, in seiner ganzen, geheimnis-
vollen Wirklichkeit erfaßt, das endliche Fassungsvermögen; Gottes
Wesen ist überhaupt streng genommen nicht vergleichbar mit
irdischen Vorstellungen, von denen alle natürliche Gotteserkenntnis
1 ibid. supp. 2: Conceptus . . . incomplexi habent fien intuitive . . . vel
elicitive, ut ovis ex motu et figura et calore lupi elicit inimicitiam, esto, quod
nunquam prius vidisset lupum . . . vel abslractive . . . vel compositive, scilicet
quod habitis conceptibus subiecti et predicati intellectus format in se conceptum
simplicem copularem componentem subiectum cum predicato. — Ähnlich abbrev.
phys. Bl. 3. Vgl. oben p. 61, N. 2. Der Instinktbegriff stammt offenbar
aus Aristoteles ,,de anuna“.
2 Metaph. 1. II, qu. 21, a. 2, co. responsalis, Bl. 117: Secundum quod
videtur solilurn et consuetum, non possumus habere conceptum singulärem incom-
plexum de re, nisi sentiatur vel ante fuerit sensata. — A. 3 bringt auf Grund
dieser Feststellung sehr vernünftige und nüchterne Warnungen vor begriff-
lichen Phantastereien, wie Traumdeutungen, Sinnestäuschungen, Magie usw.
3 ibid. a. 3, dub. 8.
4 L. XII, qu. 13 (Reg. nr. 100), a. 2, co. respons., Bl. 179v: In lumine
naturali non est possibile alicui conceptus proprius et essentialis dei. Dazu die
Beweise Bl. 180.
 
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