Studien zur Spätscholastik I.
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ausgeht — man kann nicht das Unendliche vom Endlichen abstra-
hieren. So betrachtet haben auch die großen Heiden, Aristoteles
an der Spitze, nur den terminus der göttlichen Substanz, nicht
diese Substanz selbst in ihrer ganzen Fülle erkannt; die Vorstel-
lung aber ist der vorgestellten Sache nur soweit ähnlich, wie die
Wirkung ihrer Ursache, nicht ihr „wesensähnlich“1.
Wie man sieht, finden sich philosophische und religiöse Motive
in dieser Argumentation gemischt. Aber der Grundgedanke ist
nicht eigentümlich okkamistisch, sondern Gemeingut der neueren
Scholastik. Auf die okkamistische Erkenntnistheorie weisen nur
die Bemühungen hin, den Unterschied zwischen begrifflicher Kon-
struktion und anschaulicher Erkenntnis Gottes recht klar und
scharf herauszuarbeiten2. Auch Thomas hatte schon die Möglichkeit
geleugnet, in lumine naturali Gottes Wesenheit zu erkennen. Wenn
also Marsilius von einer gegenteiligen opinio cmtiqua spricht, der
auch noch einige moderni doctores solempnes anhängen3, so kann
das wohl kaum auf die Thomisten zielen. Die entscheidende Wen-
dung der Frage lag vielmehr an einer andern Stelle.
Ist auch kein „inkomplexer“, eigentlicher und wesentlicher
Einzelbegriff Gottes der natürlichen Einsicht erreichbar, so ermög-
licht uns doch das abstraktive Urteil eine gewissermaßen indirekte
Erkenntnis seiner Existenz und seines Wesens. Schon Thomas
ging in der Weise des Aristoteles von der erfahrbaren Wirklichkeit
aus, um von da auf einen ersten Urheber des wirklichen Geschehens,
eine erste Ursache des wirklichen, d. h. geschaffenen Seins zurück-
zuschließen. Ähnlich suchte Okkam den Inhalt der- göttlichen
Wesenheit aus der Übertragung gewisser Allgemeinbegriffe, die aus
der Erfahrungskenntnis der geschöpflichen Dinge abstrahiert sind
(wie Weisheit, Güte usf.), auf den Schöpfer abzuleiten4 *. Aber er
1 ibid. Bl. 180: Quidquid est signum rei in representando, est signum
eius rei representate non in similitudine essentiali, sed in dependencia essentiali;
est enim conceptus hominis ejfectus hominis; modo effectus est similis sue cause
quantum ad dependenciam essentialem. Darum gilt auch das Argument nicht,
man könne einen zureichenden Begriff von einer Sache haben, ohne diese
vor Augen zu haben. Der Begriff selbst ist Wirkung der Sache.
2 ibid. Bl. 179, a.
5 ibid. Bl. 179, a: Opinio antiqua erat, . . . quod in lumine naturali possit
haberi conceptus proprius dei naturaliter significabilis et essentialis, et hec opinio
sumitur a commentatore II0 huius.
4 lib. sent. I, dist. 3, qu. 2, H ff. (bei Stöckl II, 1009 — 10, no. 2 u. 1
und danach bei Überweg-Baumgartner II10 603/5 irrig mit F zitiert).
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ausgeht — man kann nicht das Unendliche vom Endlichen abstra-
hieren. So betrachtet haben auch die großen Heiden, Aristoteles
an der Spitze, nur den terminus der göttlichen Substanz, nicht
diese Substanz selbst in ihrer ganzen Fülle erkannt; die Vorstel-
lung aber ist der vorgestellten Sache nur soweit ähnlich, wie die
Wirkung ihrer Ursache, nicht ihr „wesensähnlich“1.
Wie man sieht, finden sich philosophische und religiöse Motive
in dieser Argumentation gemischt. Aber der Grundgedanke ist
nicht eigentümlich okkamistisch, sondern Gemeingut der neueren
Scholastik. Auf die okkamistische Erkenntnistheorie weisen nur
die Bemühungen hin, den Unterschied zwischen begrifflicher Kon-
struktion und anschaulicher Erkenntnis Gottes recht klar und
scharf herauszuarbeiten2. Auch Thomas hatte schon die Möglichkeit
geleugnet, in lumine naturali Gottes Wesenheit zu erkennen. Wenn
also Marsilius von einer gegenteiligen opinio cmtiqua spricht, der
auch noch einige moderni doctores solempnes anhängen3, so kann
das wohl kaum auf die Thomisten zielen. Die entscheidende Wen-
dung der Frage lag vielmehr an einer andern Stelle.
Ist auch kein „inkomplexer“, eigentlicher und wesentlicher
Einzelbegriff Gottes der natürlichen Einsicht erreichbar, so ermög-
licht uns doch das abstraktive Urteil eine gewissermaßen indirekte
Erkenntnis seiner Existenz und seines Wesens. Schon Thomas
ging in der Weise des Aristoteles von der erfahrbaren Wirklichkeit
aus, um von da auf einen ersten Urheber des wirklichen Geschehens,
eine erste Ursache des wirklichen, d. h. geschaffenen Seins zurück-
zuschließen. Ähnlich suchte Okkam den Inhalt der- göttlichen
Wesenheit aus der Übertragung gewisser Allgemeinbegriffe, die aus
der Erfahrungskenntnis der geschöpflichen Dinge abstrahiert sind
(wie Weisheit, Güte usf.), auf den Schöpfer abzuleiten4 *. Aber er
1 ibid. Bl. 180: Quidquid est signum rei in representando, est signum
eius rei representate non in similitudine essentiali, sed in dependencia essentiali;
est enim conceptus hominis ejfectus hominis; modo effectus est similis sue cause
quantum ad dependenciam essentialem. Darum gilt auch das Argument nicht,
man könne einen zureichenden Begriff von einer Sache haben, ohne diese
vor Augen zu haben. Der Begriff selbst ist Wirkung der Sache.
2 ibid. Bl. 179, a.
5 ibid. Bl. 179, a: Opinio antiqua erat, . . . quod in lumine naturali possit
haberi conceptus proprius dei naturaliter significabilis et essentialis, et hec opinio
sumitur a commentatore II0 huius.
4 lib. sent. I, dist. 3, qu. 2, H ff. (bei Stöckl II, 1009 — 10, no. 2 u. 1
und danach bei Überweg-Baumgartner II10 603/5 irrig mit F zitiert).