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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0139
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Studien zur Spätscholastik. I.

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man urteilen dürfen, daß diese Vorlesung vollkommen und gründ-
lich ihren Zweck erfüllte: den angehenden Theologen in den Zu-
sammenhang der biblischen Texte und in die kirchliche Auffassung
der Heilsgeschichte einzuführen. Für die theologische Partei-
stellung des Marsilius von Inghen vermag ich ihr nichts zu ent-
nehmen.
Um so mehr Ergebnisse verspricht das Studium des großen
(von uns bereits mehrfach zitierten) Sentenzenkommentars,
einer höchst umfänglichen Leistung theologischer Gelehrsam-
keit, wie sie innerhalb der Schule Okkams nicht ganz ge-
wöhnlich war. Behandelt doch dieses Werk in seinen 2372
eng und mit Abbreviaturen gedruckten Textspalten nicht nur
alle die logischen, erkenntnistheoretischen, physikalischen und
metaphysischen Probleme, die man zum ersten Buche des Lom-
barden zu erörtern pflegte, sondern kaum weniger ausführlich den
ganzen Umkreis der theologischen Fragen, den die drei letzten
Bücher enthalten. Und das alles in der bereits geschilderten (S.73 ff.)
vollkommen regelrechten Darstellungsmethode! Seitdem den spät-
scholastischen Theologen der Stoff durch Einbeziehung der ent-
legensten philosophischen Probleme so ungeheuerlich aufgeschwol-
len war, kamen viele von ihnen nicht mehr über das erste oder die
beiden ersten Bücher des Lombarden hinaus. Marsilius besaß die
Zähigkeit, das Ganze in aller Umständlichkeit1 zu verarbeiten.
Wir betrachten daraus hier nur diejenigen Teile, in denen die
grundsätzliche Stellungnahme unseres Autors zu den Leitmotiven
der vorreformatorischen Theologie zum Ausdruck kommt.
Da erhebt sich zunächst die Frage nach dem wissenschaft-
lichen Charakter der Theologie. Das Vordringen des aristotelischen
Wissenschaftsbegriffs hatte schon seit dem 13. Jahrhundert die
naive Überzeugung der älteren Franziskaner schule von dem letzt-
lich mystischen Charakter aller höheren Wahrheitserkenntnis, der
die Theologie unbezweifelt als echte Wis enschaft erscheinen ließ,
ins Wanken gebracht. Ist die Theologie aber keine eigentliche
Wissenschaft, was ist sie dann? Für Thomas gingen natürliche
und Glaubenserkenntnis auf weite Strecken zusammen; so behielt
die Theologie, indem sie die auch der natürlichen Vernunft zugäng-
lichen Teile der Gotteslehre erörterte und den übervernünftigen
1 Vgl. damit z. B. den Sentenzenkommentar P. d’Aillys, der nur eine
beschränkte Auswahl von Quaestionen bearbeitet.
 
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