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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0161
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Studien zur Spätscholastik. I.

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entpuppt sich bei näherer Betrachtung als rein metaphysische
Bestimmung von zweifelhaftem Charakter. Sie bedeutet nichts
anderes, als die metaphysische Selbständigkeit des Individuums,
um eigener, nicht fremder Zwecke willen zu handeln1 und fällt
im Wesen zusammen mit der an anderer Stelle2 so genannten
libertas com.placentie. Im eigentlichen Sinne (primaria intentione)
kommt diese Bestimmung nur Gott zu, der ja als causa prima
efficiens et finalis sowohl oberste Ursache als oberster Zweck alles
menschlichen Handelns ist, und auch das böse Handeln verursacht,
das er stets zum Guten zu lenken weiß3. Erst an zweiter Stelle
ist der Mensch fähig, sich selbst Zwecke zu setzen, und da (nach
der aristotelischen Vorstellung) alle Menschen, als Entelechien be-
trachtet, auf das höchste Gut zustreben, so ergibt es sich von selbst,
daß die libertas finalis ordinationis in der Erfüllung des Sitten-
gebotes zum Ausdruck kommt; denn das Gute allein ist dem Men-
schen in Hinsicht seiner finalis ordinatio förderlich, die Sünde
dagegen macht ihn elend und unglücklich4.
Die metaphysische Betrachtung ergibt sogleich, daß diese Art
von Freiheit sowohl der praktischen wie der theoretischen Ver-
nunft zukommt: beide stehen unter derselben letzten Bestimmung.
Anders liegt die Frage für die (psychologische) libertas oppositionis.
Daß sich der Wille ihres Besitzes erfreut, nicht in seinen primi,
wohl aber in seinen secundi actus, wissen wir schon. Der Verstand
dagegen hat nicht die Möglichkeit, bald dieser, bald jener Ent-
scheidung sich zuzuwenden. Seine inkomplexen Vorstellungen
gehen mit gesetzlicher Folgerichtigkeit (naturaliter) aus den phan-
tasmata hervor; aber auch die secundi actus intellectus, die Urteile,
erfolgen häufig mit Notwendigkeit, da sie auf ein anschauliches
sachliches Verhältnis der Objekte des Erkennens untereinander
oder auf logischen Zwang aufgebaut sind. Eine gewisse Freiheit
des actus primus besteht nur darin, daß der Intellekt dem Sinnes-
eindruck oder seiner Auffassung im inkomplexen Begriff zuweilen
1 lib. II, qu. 22, art. 2, Bl. 330, a: Si agat [voluntas] cum cognitione
intellectiva jinaliter et ordinale gratia sui. Serviliter vero agere dicitur, si primaria,
intentione Ordinate agendo agit gratia alterius.
2 Qu. 16, art. 2, Bl. 275, d.
3 Ausführlich hierüber qu. 16, art. 3, Bl. 277 sq., bes. concl. 1, Bl. 277,b,
278, b und ibid. art. 2, concl. 1, Bl. 276, a.
4 Qu. 22, art. 2, concl. 9, Bl. 332, d. An dieser Stelle liegen die Ansatz-
punkte zu der gemeinscholastischen Lehre von der lex naturalis und synderesis.

Sitzungsberichte d. Heidelb. Akad., philos.-hist. Kl. 1921. 4. Abh.

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