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Studien zur Spätscholastik. I

16:

oft laufen nicht unsere Gedanken beim Absingen der Horen oder
dem Avemaria davon, um über die Gnadenfülle der Gottesmutter
u. a. nachzusinnen; wie oft versucht der Teufel die Betenden mit
bösen Gedanken1!
Nach alledem ist es aber doch einleuchtend, daß der Verstand
weit mehr gebunden ist, an einen zwangsläufigen Naturprozeß der
Vorstellungsbewegungen, als der Wille an die ihn erregenden
Objekte. Dem Intellekt als solchem fehlt durchaus die Wahl
zwischen Zustimmung und Ablehnung; selbst da, wo er einmal
willkürliche Vorstellungsverbindungen knüpft, z. B. in der Bildung
von in sich kontradiktorischen Urteilen, tut er es nicht freiwillig,
sondern in demselben Verhältnis der Abhängigkeit vom Willen,
wie etwa die Glieder libere imperati ihre Bewegungen nach dessen
Geheiß ausführen; und von einer Wahlfreiheit der Zustimmung
oder Ablehnung solchen Urteilen gegenüber kann nicht die Rede sein.
Noch deutlicher wird der durch dieses Ergebnis festgestellte
Vorrang des Willens in der rein metaphysischen Betrachtung
erkannt. Hier verlassen wir den festen Boden der Psychologie und
treten wieder auf das Gebiet der theologisch-metaphysischen Spe-
kulation hinüber. Was steht höher im Rang: die Erkenntnis,
oder die Liebe, die Schau Gottes (visio) oder die liebende Ver-
senkung in sein ewiges Wesen (fruitio) ? Was führt unmittelbarer
zur ewigen Seligkeit, die rechte Erkenntnis, oder der rechte Wille ?
Schon die Fragestellung zeigt, daß hier nicht mehr der strenge
Aristoteliker spricht, sondern der von religiösem Eifer erfüllte
Christ. Wird die Antwort im Sinne des Thomas und Augustinus
ausfallen, der alles lebende Streben der Frommen endlich doch in
der reinen, vom Willen erlösten Schau des Ewigen ausklingen ließ ?
So mancher theologische Zug, dem wir bisher begegneten, läßt es
uns erwarten. Und in der Tat wird auch jetzt wieder die Aufgabe
der Theologie in diesem Sinne bestimmt2. Aber im Hinblick auf
das Leben des Christen hören wir ganz im Sinne der Franziskaner
das Apostelwort verwendet: „Nun aber bleiben Glaube, Liebe,
Hoffnung, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen3.“
Marsilius hält den augustinischen Willensprimat theologisch ebenso
konsequent fest (konsequenter als der große Kirchenlehrer selbst),
wie die skotistisch-okkamistische Tradition. Es hat wenig Interesse,
1 Bl. 332, c—d. 2 ibid. co. 3, Bl. 333, d und Bl. 338, a ad 2. rat.
3 Qu. 22, art. 2, pars 3, Bl. 333, d.

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