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Studien zur Spätscholastik. I.

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fährdung durch die Konkupiszenz als frei zu betrachten ist. Inwie-
fern das möglich sein soll, bedarf freilich noch der späteren Er-
örterung.
Bei alledem ist die massive Art, wie etwa Gregor von Rimini
und in der Hauptsache auch Luther1 Erbsünde und Konkupiszenz
einander gleichsetzten, bewußt vermieden. Zunächst ist schon die
Begehrlichkeit (concupiscibilitas), wie wir gesehen haben, nicht
identisch mit der Konkupiszenz, dem sinnlichen Trieb (noch weniger
natürlich mit der sexuellen Sinnlichkeit), sondern erstreckt sich
auf alle Körper- und Seelenkräfte: durch bewußte Willensakte
wird sie immer wieder zur persönlichen Schuld gestaltet. Sodann
aber ist die Erbsünde ihrem Wesen nach (formaliter) gar nicht
selbst Begehrlichkeit, sondern Mangel der ursprünglichen Har-
monie der Seelenkräfte, der bewirkt, daß die egoistischen Motive
im sittlichen Kampfe stärker bleiben als die moralischen2. Die
Begehrlichkeit ist also nicht ihr Wesen, sondern ihre Folge oder
ihre materielle Erscheinungsform. Vor allem ist sie keine positive
oder negative Qualität des Leibes, die etwa durch den Samen fort-
gepflanzt würde (wie könnte sie sonst Schuld sein!)3, sondern im
Wesen etwas Geistiges: nämlich der Mangel einer (im Paradiese
einst vorhandenen) geistigen Qualität. Ihr Charakter als Schuld
beruht in diesem Zusammenhang darauf, daß wir als Adamskinder
durch Gottes Zurechnung an Adams Schuld teilhaben4, und nur
so ist zu begreifen, daß schon die Neugeborenen als „Kinder des
Zorns“ zur Welt kommen. Würde ein solches K ind durch Mirakel
auch ohne Konkupiszenz geboren, so wäre es doch ohne Gottes
Gnadeneingießung den Verdammten zuzurechnen. Von dieser
Seite betrachtet, erscheint in der Tat die Erbsünde (im Sinne
Okkams) als rein begriffliches Verhältnis. Aber schon die Hoch-
scholastik behauptete, auf den Fußspuren Augustins, ihren doppel-
ten Charakter als concupiscentia in der Erscheinung und als carentia
1 Seeberg IV, l3, 165.
2 Qu. 19, art. 2, Bl. 307, b: Post peccatum caro concupivit ad sua bona
et. non ad bonum rationis. Ferner art. 3, pars 2, Bl. 309, a ff.
3 ibid. art. 3, concl. 2, Bl. 309, a: Nec peccatum originale est aliqua
dispositio positioa vel privativa existens in corpore sic, quod non in anima;
probatur, quod si sic, non esset peccatum.
4 Das darf aber nicht so verstanden werden, als ob Adam die Erbsünde
wie ein heimliches Gift als positio macule vererbt hätte; vererbt hat er nur
decoris ablationem, sc. iusticie originalis. — 1. c. BL 309, a, concl. 4.
 
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