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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0182
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182

Gerhard Ritter:
eigener Kraft zu widerstehen, auf die Hilfe der göttlichen Gnade
warten muß, um einen wahrhaft guten Entschluß fassen zu können ?
Ganz sicher weiß Marsilius solche Fragen nicht zu beantworten.
Er muß zugeben, daß niemand mit Sicherheit wissen kann, ob er
zu den Erwählten oder zu den Verdammten gehört. Mag sein sitt-
liches Verdienst, seine Liebe zu Gott und seinem Worte noch so
groß sein: wer weiß, ob sie aus der allein rettenden gratia infusa
oder nur aus der gratia gratis clata. gewirkt ist1? Doch braucht das
nicht zur Verzweiflung zu treiben. Wir hörten schon, daß Gott
dem redlich sich Mühenden zu Hilfe kommen wird. Gottes Er-
barmen ist größer als alle Bosheit der Welt. Es ist doch nicht
umsonst, wenn wir unsere Hände nach ihm ausstrecken. Die reli-
giöse Bedeutung der merita de congruo wird jetzt klar. Der ewige
Ratschluß Gottes ist nicht als längst vor unserm Leben festgesetzt
zu denken: er ist unzeitlich, gegenwärtig in jedem Augenblick.
Gottes Wille ist niemals determiniert, selbst nicht durch seine
eigene Vorausbestimmung; er bleibt ewig kontingent. Selbst der
Verdammte kann noch gerettet werden, wenn Gott es so will2. So
wird die Lurcht vor Gottes unerforschlichem Ratschluß nicht zur
Lähmung, sondern gerade zum stärksten Stachel der Seele, sich
durch merita de congruo zum Empfang der rettenden Gnade würdig
zu machen. Die Geschichte hat später in der gewaltigen Erschei-
nung des Calvinismus bewiesen, daß in der Tat eine solche Ideen-
verbindung zwischen Prädestination und praktischer Moral lebens-
fähig ist.
So erscheint das System dieser Theologie gleichsam gekrönt
durch eine Reihe von Sätzen, die mit monumentaler Wucht die
unvergleichliche Erhabenheit Gottes über die Kreatur zum Aus-
druck bringen. Niemals kann der Wille des Geschöpfes die Willens-
richtung des Schöpfers bestimmen. Niemand ist zum Heile be-
stimmt wegen des guten Gebrauches seiner Freiheit, weder de
condigno, noch de congruo3; niemand aus dem Grunde, weil Gott
vorhersieht, daß er der Gnade nicht den .,Riegel“ der Sünde vor-
schieben wird. Keiner ist von Ewigkeit her verworfen wegen seiner
bösen Taten, keiner auch deshalb, weil Gott den,,Riegel“ der Sünde
1 1. II, qu. 18, a. 2, Bl. 298, a. 2 1. I, qu 41, a. 1, Bl. 172a-b.
3 Dieser Satz wendet sieh ausdrücklich gegen die vermittelnde Theologie
des Thomas von Straßburg, der GottesGerechtigkeit nur dann gerettet glaubte,
wenn für Erwählung bezw. Verwerfung ein Grund seitens der Kreatur vor-
liege. 1. c. Bl. 172, d. Ebendort und ff. die übrigen hier angeführten Sätze.
 
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