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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0184
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Gerhard Ritter:

I 84
Wissensgebieten die einmal erfaßten Prinzipien mit Zähigkeit zur
Anwendung zu bringen. Diese Schulgelehrten — wenn denn ein-
mal Schulweisheit die Scholastik kennzeichnen soll — besaßen
jedenfalls ein ungeheuer solides Wissen, das ihnen nie versagte.
Aber nicht das biographische, sondern das zeitgeschichtliche
Interesse hat diese Untersuchung veranlaßt. Ist Marsilius von
Inghen wirklich ein Eklektiker gewesen, so liegt gerade der Reiz
und die geschichtliche Bedeutung seiner Gedankenarbeit darin, daß
in ihrer Entfaltung fast alle wesentlichen Motive philosophischen
und theologischen Denkens zur Geltung kommen (nur die Mystik
fehlt ganz), die das geistige Leben Deutschlands zu seiner Zeit
aufzuweisen hatte. Eins ist dabei vor allem deutlich geworden: die
wissenschaftliche Bewegung des ausgehenden Mittelalters ist unend-
lich viel reicher, als daß sie sich in das herkömmliche Begriffspaar
von Nominalismus und Realismus einspannen ließe. Der Gegen-
satz dieser Erkenntnisprinzipien besteht. Aber er kann entfernt
nicht die Tragweite gehabt haben, die man ihm zuzuschreiben
gewöhnt ist. Das ist keine ganz neue Erkenntnis. Aber sie kann
nur dann zur Geltung kommen, wenn durch immer erneute EinzeT
forschung die wirklichen, tieferliegenden Reibungsflächen auf-
gezeigt werden, an denen sich der Fortschritt des Denkens ent-
zündet hat. Sie liegen auf jedem Wissensgebiet wieder an anderer
Stelle, obschon sie sich gewiß in letzter Linie auf ursprüngliche
Gegensätze philosophischer Prinzipien zurückführen lassen, die den
Wandel der Zeiten überdauern, weil sie in der Eigenart des mensch-
lichen Denkens überhaupt begründet sind.
Aber wie die Universalität dieser Ideen durch die besondere
Materie des von ihnen durchleuchteten Erkenntnisgebietes, durch
die persönliche und nationale Eigenart ihres Trägers (gerade das
nationale Moment ist in unserem Falle bedeutend!) in immer wech-
selndem Farbenspiel gleichsam gebrochen wird und zu individueller
Besonderheit sich gestaltet — darin liegt der unvergleichliche Reiz
der geschichtlichen Wirklichkeit beschlossen.
Schließlich begründet das ja überhaupt die besondere Auf-
gabe der historischen Arbeit im Rahmen der Geisteswissenschaften:
die Selbstverwirklichung des menschlichen Geistes im zeitlichen
Geschehen in ihrer ganzen Fülle und niemals rastenden Bewegung
zu erkennen, wie sie aller Formen und Systeme spottet, die wir von
außen an ihre Betrachtung herantragen.
 
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