132
Gerhard Ritter:
die Frage, ob es möglich sei, die theologischen Systeme des 13. und
beginnenden 14. Jahrhunderts in ganzem Umfang zu erneuern.
Besaßen die Versuche zu solcher Erneuerung eine größere Bedeu-
tung für die Geschichte der Theologie und der Kirche ? Das ist
die letzte Frage, die wir noch zu beantworten haben.
Die bisherige dogmengeschichtliche Darstellung neigt dazu,
diese Dinge allzusehr von einem überscharf konstruierten Begriff
des Gegensatzes zwischen okkamistischer und thomistischer Theo-
logie aus zu beurteilen. Wäre es so, wie z. B. Seeberg glaubt,
daß die okkamistische Theologie des 15. Jahrhunderts wesentlich
nur „negative Kritik“ an der metaphysischen Spekulation oder gar
nur „dialektische Exerzitien“ bot1, dann würde man freilich ohne
weiteres die Erneuerung der älteren Theologie als einen geschicht-
lichen Fortschritt begrüßen dürfen. Die These Prantls und Her-
melinks von dem wesentlich „sermozinalen“ Charakter der via
moderna hat viel zur Versteifung solcher Vorstellungen beigetragen.
Sie hat sich uns für das Gebiet der artistischen Studien als irrig
erwiesen. Aber mir scheint, auch das Bild der Theologen aus der
okkamistischen Schule wird gründlich verzeichnet, wenn man in
der Hauptsache die Züge Wilhelm Okkams als Unterlage benutzt.
Den exakten Nachweis hierfür konnte meine Studie über Mar-
silius von Inghen wenigstens für einen einzelnen Okkamisten er-
bringen. Die theologischen Werke, die von den „Modernen“ des
15. Jahrhunderts am meisten als Muster benutzt wurden, waren
schwerlich Okkams Schriften, sondern viel häufiger jene halb-
thomistischen Sentenzenkommentare, deren bekanntesten Typus
der Augustiner Thomas von Straßburg2 darstellt; auch Gregor
von Rimini und Johannes Gerson scheinen viel gelesen zu sein.
Darf man diesen Männern im Ernste nachsagen, ihnen sei das eigent-
lich theologische Interesse hinter dialektischen Künsten zurück-
getreten? Oder auch nur, ihr Glaube an die Berechtigung meta-
physischer Spekulation in theologischen Fragen, der „Realismus
ihrer Weltanschauung, der die Begriffe als Träger der Sachen
ansah“ (Seeberg), sei ihnen irgendwie schwankend geworden ?
Daß sich dialektische Sophismen in der spätmittelalterlichen theo-
logischen Literatur unerträglich breitmachen, ist unbestritten
1 Dogmengeschichte III3, 630ff. 2 Th. v. Str. wurde durch den Heidel-
berger Theologen Pallas Spangel, der selbst der via antiqua angehörte, heraus-
gegeben: bezeichnend für die eklektische Haltung des Autors wie des Heraus-
gebers !
Gerhard Ritter:
die Frage, ob es möglich sei, die theologischen Systeme des 13. und
beginnenden 14. Jahrhunderts in ganzem Umfang zu erneuern.
Besaßen die Versuche zu solcher Erneuerung eine größere Bedeu-
tung für die Geschichte der Theologie und der Kirche ? Das ist
die letzte Frage, die wir noch zu beantworten haben.
Die bisherige dogmengeschichtliche Darstellung neigt dazu,
diese Dinge allzusehr von einem überscharf konstruierten Begriff
des Gegensatzes zwischen okkamistischer und thomistischer Theo-
logie aus zu beurteilen. Wäre es so, wie z. B. Seeberg glaubt,
daß die okkamistische Theologie des 15. Jahrhunderts wesentlich
nur „negative Kritik“ an der metaphysischen Spekulation oder gar
nur „dialektische Exerzitien“ bot1, dann würde man freilich ohne
weiteres die Erneuerung der älteren Theologie als einen geschicht-
lichen Fortschritt begrüßen dürfen. Die These Prantls und Her-
melinks von dem wesentlich „sermozinalen“ Charakter der via
moderna hat viel zur Versteifung solcher Vorstellungen beigetragen.
Sie hat sich uns für das Gebiet der artistischen Studien als irrig
erwiesen. Aber mir scheint, auch das Bild der Theologen aus der
okkamistischen Schule wird gründlich verzeichnet, wenn man in
der Hauptsache die Züge Wilhelm Okkams als Unterlage benutzt.
Den exakten Nachweis hierfür konnte meine Studie über Mar-
silius von Inghen wenigstens für einen einzelnen Okkamisten er-
bringen. Die theologischen Werke, die von den „Modernen“ des
15. Jahrhunderts am meisten als Muster benutzt wurden, waren
schwerlich Okkams Schriften, sondern viel häufiger jene halb-
thomistischen Sentenzenkommentare, deren bekanntesten Typus
der Augustiner Thomas von Straßburg2 darstellt; auch Gregor
von Rimini und Johannes Gerson scheinen viel gelesen zu sein.
Darf man diesen Männern im Ernste nachsagen, ihnen sei das eigent-
lich theologische Interesse hinter dialektischen Künsten zurück-
getreten? Oder auch nur, ihr Glaube an die Berechtigung meta-
physischer Spekulation in theologischen Fragen, der „Realismus
ihrer Weltanschauung, der die Begriffe als Träger der Sachen
ansah“ (Seeberg), sei ihnen irgendwie schwankend geworden ?
Daß sich dialektische Sophismen in der spätmittelalterlichen theo-
logischen Literatur unerträglich breitmachen, ist unbestritten
1 Dogmengeschichte III3, 630ff. 2 Th. v. Str. wurde durch den Heidel-
berger Theologen Pallas Spangel, der selbst der via antiqua angehörte, heraus-
gegeben: bezeichnend für die eklektische Haltung des Autors wie des Heraus-
gebers !