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Hans v. Schubert:
einem Buche, das eines der merkwürdigsten Phänomene der Lite-
ratur bildet, dem Defensor pacis des Paduaners Marsiglio1. Das
Buch ist zu verstehen auf dem Hintergrund jener epochemachenden,
in die Form eines Prozesses auslaufenden Auseinandersetzung zwi-
schen der französischen Krone und der römischen Kurie am Anfang
des 14. Jahrhunderts; es stammt aus der Gruppe der Pariser
Gelehrten, die die radikale Polemik der französischen Legisten
gegen die weltlichen Ansprüche des Papstes miterlebt hatten, aus
der Feder eines gebürtigen Italieners, der, der lombardischen Heimat
der neuen klassischen Jurisprudenz entsprossen, von den Anfängen
allgemeiner humanistischer Bildung umweht war, — der erste
großartige Versuch einer idealen, aber ganz und gar nicht mehr
mittelalterlichen Rechts- und Staatskonstruktion. Im Bedürfnis,
Waffen zu finden, um den durch das Papstrecht gestörten Frieden
der menschlichen Gemeinschaft zu verteidigen2, traf sein Blick
auf jenes alte philosophische Vernunftrecht, von dem wir sahen,
daß es der Kirche geholfen hat, ihr göttliches Recht auszubauen.
Den Dienst hatte des Aristoteles Staatslehre noch Thomas von
Aquino geleistet3. Nun aber kündigte Marsilius, wie andere auf
anderen Gebieten, den Dienstvertrag, den die Kirche der Antike
aufgezwungen hatte, und errichtete mit den Bausteinen des echten
Aristoteles einen Staatsbau von souveräner Majestät, bei dem für
ein selbständiges Recht der Kirche weder in der Gesetzgebung noch
der Verwaltung noch der Gerichtsbarkeit irgendwie Raum blieb.
,,Die entgegenstehenden römischen Dekrete oder Dekretalien lehnen
wir, wenn auch cum reverentia, ab und verneinen sie offen.“ Der
fidelis legislator humanus hat der Kirche, das ist der Gesamtheit
der Gläubigen, selbst ihre Pfarrer zu setzen und dafür zu sorgen,
1 Der (freilich nicht vollständige) Text am bequemsten bei R. Scholz,
Quellensammlung zur deutschen Geschichte von Brandenburg u. Seeliger,
1914. Über ihn etwa S. Riezler, Die liter. Widersacher der Päpste zur Zeit
Ludwigs des Bayern S. 30ff., 193ff. (1874); K. Müller, Der Kampf Ludwigs
d.B.mit der Kurie I, 161ff. (1879), u. KG. II, 29ff.; M. Guggenheim, M. v. P.
u. d. Staatslehre des Aristoteles, Hist. Viertelj., 1904, S. 343ff., und R. Scholz,
Ztschr. f. Politik, 1908; Fr. v. Bezold, Die Lehre v. d. Volkssouveränität
während des MA., Hist. Ztschr. 36, 1876; Hauck, KG. Deutschlands V, 500ff.
(1911); H. Otto, M. v. P. u. der Def. pacis. Hist. Jahrb. 45 (1925), S. 189ff.
2 Def. pacis I, 19, vgl. 2.
3 Thomas von Aquino, De regim. principum I, 1 ff.; Jellinek, Allg.
Staatslehre2, S. 197; Seeberg, Dogmengeschichte III, 502; <T. Vilmain, Die
Staatslehre des Th. v. Aquino (1913); O. Schilling, Die Staats- und Sozial-
lehre des hl. Thomas v. A., (1923).
Hans v. Schubert:
einem Buche, das eines der merkwürdigsten Phänomene der Lite-
ratur bildet, dem Defensor pacis des Paduaners Marsiglio1. Das
Buch ist zu verstehen auf dem Hintergrund jener epochemachenden,
in die Form eines Prozesses auslaufenden Auseinandersetzung zwi-
schen der französischen Krone und der römischen Kurie am Anfang
des 14. Jahrhunderts; es stammt aus der Gruppe der Pariser
Gelehrten, die die radikale Polemik der französischen Legisten
gegen die weltlichen Ansprüche des Papstes miterlebt hatten, aus
der Feder eines gebürtigen Italieners, der, der lombardischen Heimat
der neuen klassischen Jurisprudenz entsprossen, von den Anfängen
allgemeiner humanistischer Bildung umweht war, — der erste
großartige Versuch einer idealen, aber ganz und gar nicht mehr
mittelalterlichen Rechts- und Staatskonstruktion. Im Bedürfnis,
Waffen zu finden, um den durch das Papstrecht gestörten Frieden
der menschlichen Gemeinschaft zu verteidigen2, traf sein Blick
auf jenes alte philosophische Vernunftrecht, von dem wir sahen,
daß es der Kirche geholfen hat, ihr göttliches Recht auszubauen.
Den Dienst hatte des Aristoteles Staatslehre noch Thomas von
Aquino geleistet3. Nun aber kündigte Marsilius, wie andere auf
anderen Gebieten, den Dienstvertrag, den die Kirche der Antike
aufgezwungen hatte, und errichtete mit den Bausteinen des echten
Aristoteles einen Staatsbau von souveräner Majestät, bei dem für
ein selbständiges Recht der Kirche weder in der Gesetzgebung noch
der Verwaltung noch der Gerichtsbarkeit irgendwie Raum blieb.
,,Die entgegenstehenden römischen Dekrete oder Dekretalien lehnen
wir, wenn auch cum reverentia, ab und verneinen sie offen.“ Der
fidelis legislator humanus hat der Kirche, das ist der Gesamtheit
der Gläubigen, selbst ihre Pfarrer zu setzen und dafür zu sorgen,
1 Der (freilich nicht vollständige) Text am bequemsten bei R. Scholz,
Quellensammlung zur deutschen Geschichte von Brandenburg u. Seeliger,
1914. Über ihn etwa S. Riezler, Die liter. Widersacher der Päpste zur Zeit
Ludwigs des Bayern S. 30ff., 193ff. (1874); K. Müller, Der Kampf Ludwigs
d.B.mit der Kurie I, 161ff. (1879), u. KG. II, 29ff.; M. Guggenheim, M. v. P.
u. d. Staatslehre des Aristoteles, Hist. Viertelj., 1904, S. 343ff., und R. Scholz,
Ztschr. f. Politik, 1908; Fr. v. Bezold, Die Lehre v. d. Volkssouveränität
während des MA., Hist. Ztschr. 36, 1876; Hauck, KG. Deutschlands V, 500ff.
(1911); H. Otto, M. v. P. u. der Def. pacis. Hist. Jahrb. 45 (1925), S. 189ff.
2 Def. pacis I, 19, vgl. 2.
3 Thomas von Aquino, De regim. principum I, 1 ff.; Jellinek, Allg.
Staatslehre2, S. 197; Seeberg, Dogmengeschichte III, 502; <T. Vilmain, Die
Staatslehre des Th. v. Aquino (1913); O. Schilling, Die Staats- und Sozial-
lehre des hl. Thomas v. A., (1923).