Politische Prozesse.
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hunderts darüber im unklaren, auf welchem Rechtstitel dieser
Lehnsverlust und der damit zusammenhängende Gebietserwerb der
französischen Krone beruhte. Meist nahm sie an, daß ein gegen
Johann ohne Land gefälltes Todesurteil wegen der Ermordung
seines Neffen Arthur ihn auch seines Lehnrechtes beraubt hätte.
Dabei waren wieder verschiedene Ansichten darüber vertreten, ob
dieses Todesurteil das einzige gegen Johann ergangene Erkenntnis
darstellte oder ob er außerdem noch in einem Lehnsverfahren ver-
urteilt worden sei; wer das letztere annahm, konnte dem Lehns-
urteil nur eine ganz beschränkte Bedeutung zumessen, da ja gerade
die Erwerbung der Normandie durch die französische Krone an-
scheinend auf einem Strafverfahren beruhte. Die erste Bresche in
diese communis opinio schlug die Arbeit von Bemont1, der das
ganze Vorbringen von 1216. als ein Spiel der Lüge und Erfindung
hinstellte. Seiner Ansicht nach gab es also nur ein einziges, ein
lehnrechtliches Urteil, alles andere war pure Phantasie. Diese
Meinung hatte durchschlagenden Erfolg, zumal da die Autorität
Luchaires sich ihr zuneigte2. Indessen blieb sie nicht unwider-
sprochen: der ausgezeichnete Prozeßrechtshistoriker Paul Guil-
hiermoz trat mit Energie für die Existenz zweier Verurteilungen
ein3, und es entspann sich eine heftige mehrjährige Fehde, die sich,
als 1907 Petit-Dutaillis seine Ergänzungen zur französischen
Ausgabe von Stubbs’ Gonstitutional history of England veröffent-
lichte4, entschieden zugunsten Bemonts gewandt hatte. Erst 1913
wurde durch F. M. Powickes Löss of Normandy5 die Frage wieder
auf gerollt und neues englisches Annalenmaterial für die zweite Ver-
urteilung ins Treffen geführt; auf ihm fußt die Darstellung bei
1 De Johanne cognomine sine Terra Angliae rege Lutetiae Parisiorum
anno 1202 condemnato, These Paris 1884 = De la condemnation de Jean
Sans Terre, Revue historique 32 (1886), p. 33—72, 290—311. Dort auch
p. 35 eine Übersicht über die ältere Literatur: es sind Namen wie Voltaire,
Pardessus, Beugnot, Stubbs darunter.
2 Luchaire, Manuel des institutions fran$aises, Periode des Capetiens
directs, Paris 1892, p. 561; Luchaire-Lavisse, Histoire de France illustree
III, 1, p. 128.
3 P. Guilhiermoz, Les deux condamnations de Jean sans Terre par la
cour de Philippe Auguste, Bibi, de l’ecole des Chartes 60 (1899), p. 45—85.
4 S. oben S. 88 A. 1. Eine genaue Bibliographie über die Zeit von 1899
bis 1907 ebenda p. 8622.
5 F. M. Powicke, The Löss of Normandy (Studies in the History of
Angevin Empire), Manchester 1913. In Betracht kommt vor allem das Kapitel:
King John and Arthur of Britanny, p. 453 ff.
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hunderts darüber im unklaren, auf welchem Rechtstitel dieser
Lehnsverlust und der damit zusammenhängende Gebietserwerb der
französischen Krone beruhte. Meist nahm sie an, daß ein gegen
Johann ohne Land gefälltes Todesurteil wegen der Ermordung
seines Neffen Arthur ihn auch seines Lehnrechtes beraubt hätte.
Dabei waren wieder verschiedene Ansichten darüber vertreten, ob
dieses Todesurteil das einzige gegen Johann ergangene Erkenntnis
darstellte oder ob er außerdem noch in einem Lehnsverfahren ver-
urteilt worden sei; wer das letztere annahm, konnte dem Lehns-
urteil nur eine ganz beschränkte Bedeutung zumessen, da ja gerade
die Erwerbung der Normandie durch die französische Krone an-
scheinend auf einem Strafverfahren beruhte. Die erste Bresche in
diese communis opinio schlug die Arbeit von Bemont1, der das
ganze Vorbringen von 1216. als ein Spiel der Lüge und Erfindung
hinstellte. Seiner Ansicht nach gab es also nur ein einziges, ein
lehnrechtliches Urteil, alles andere war pure Phantasie. Diese
Meinung hatte durchschlagenden Erfolg, zumal da die Autorität
Luchaires sich ihr zuneigte2. Indessen blieb sie nicht unwider-
sprochen: der ausgezeichnete Prozeßrechtshistoriker Paul Guil-
hiermoz trat mit Energie für die Existenz zweier Verurteilungen
ein3, und es entspann sich eine heftige mehrjährige Fehde, die sich,
als 1907 Petit-Dutaillis seine Ergänzungen zur französischen
Ausgabe von Stubbs’ Gonstitutional history of England veröffent-
lichte4, entschieden zugunsten Bemonts gewandt hatte. Erst 1913
wurde durch F. M. Powickes Löss of Normandy5 die Frage wieder
auf gerollt und neues englisches Annalenmaterial für die zweite Ver-
urteilung ins Treffen geführt; auf ihm fußt die Darstellung bei
1 De Johanne cognomine sine Terra Angliae rege Lutetiae Parisiorum
anno 1202 condemnato, These Paris 1884 = De la condemnation de Jean
Sans Terre, Revue historique 32 (1886), p. 33—72, 290—311. Dort auch
p. 35 eine Übersicht über die ältere Literatur: es sind Namen wie Voltaire,
Pardessus, Beugnot, Stubbs darunter.
2 Luchaire, Manuel des institutions fran$aises, Periode des Capetiens
directs, Paris 1892, p. 561; Luchaire-Lavisse, Histoire de France illustree
III, 1, p. 128.
3 P. Guilhiermoz, Les deux condamnations de Jean sans Terre par la
cour de Philippe Auguste, Bibi, de l’ecole des Chartes 60 (1899), p. 45—85.
4 S. oben S. 88 A. 1. Eine genaue Bibliographie über die Zeit von 1899
bis 1907 ebenda p. 8622.
5 F. M. Powicke, The Löss of Normandy (Studies in the History of
Angevin Empire), Manchester 1913. In Betracht kommt vor allem das Kapitel:
King John and Arthur of Britanny, p. 453 ff.