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Heinrich Mitteis:
abzulenken1. Freilich wird die isolierte Betrachtung etwa des deut-
schen Lehnrechts nicht viel weiter führen. Denn das Lehnrecht
ist ein internationales, besser ein übernationales Rechtsgebilde
im vollsten Sinne des Wortes. So wird hier nur eine Vergleichung
auf breiter Basis vorwärtshelfen und die Wissenschaft wird sich
dieser Aufgabe unterziehen dürfen, ohne Goethes Anathem „Dilet-
tanten vergleichen“ fürchten zu müssen; denn die Vergleichung
wird wesentlich dazu führen, die Einzigartigkeit der historischen
Erscheinungen in ihrer Tragweite erkennen zu lassen2.
Es ist nun immer gefährlich, einer so großen Aufgabe in einem
einzelnen Punkte vorgreifen zu wollen. Trotzdem möchten wir
unter dem ausdrücklichen Vorbehalt, daß es sich um eine rein
hypothetische Aufstellung handelt, um einen Hinweis auf einen
möglichen Lösungsversuch, die Frage aufwerfen, ob denn aus dem
Vergleiche der Gesamtstruktur des deutschen und französischen
Lehnrechts schon jetzt auf den locus minoris resistentiae ge-
schlossen werden kann, der das deutsche Lehnrecht so widerstands-
unfähig gegen einen Einbruch von außen her gemacht hat. Und
man könnte etwa folgendes in Erwägung ziehen:
Dem deutschen Lehnrechte des Mittelalters wohnt eine immer
sich verstärkende Tendenz zur Verdinglichung inne3. Das vasal-
litische, persönliche Moment der Treue trat zurück, das dingliche
Recht des Lehnsmanns am Lehnsgut trat immer beherrschender in
den Vordergrund4. So mußte sich allmählich eine Objektivierung,
Verdinglichung der lehnrech blichen Beziehungen ausbilden, der
zufolge dem jeweiligen Lehngut ein unverlierbarer Charakter auf-
gedrückt wurde. Es erschien als dessen „objektive Rechtsqualität“
Lehngut zu sein. Diese Qualität mußte auch in der Hand des
Lehnsherren erhalten bleiben, wenn ihm das Gut heimfiel oder er
es im Prozesse einzog5. Es mußte in seiner Eigentumssphäre einen
1 Wie sehr auch z. B. das Studium des Vertragsrechts durch die ver-
mehrte Berücksichtigung der Klauseln der Lehnsverträge gefördert werden
könnte, möchte ich hier nur andeuten. Für den Begriff der Vertragsverletzung
z. B. ist diese Fundgrube noch längst nicht erschöpft.
2 Vgl. v. Below, Der deutsche Staat im MA.1 333, 2XXV.
3 LIeusler, Deutsche Verf.geschichte 140f.
4 Zum folgenden Gierke, Deutsches Genossenschaftsrecht II, 95ff.;
Fehr, Fürst u. Graf im Ssp., 12ff.; Rosenstock, Königshaus u. Stämme, 159ff.
5 Der umgekehrte Vorgang ist der, daß abgeleitetes Recht in der Hand
des Mannes als Eigentum („Inwärts-Eigen“) erscheint. Vgl. Paul Punt-
schart, ZRG. 43, 66ff.
Heinrich Mitteis:
abzulenken1. Freilich wird die isolierte Betrachtung etwa des deut-
schen Lehnrechts nicht viel weiter führen. Denn das Lehnrecht
ist ein internationales, besser ein übernationales Rechtsgebilde
im vollsten Sinne des Wortes. So wird hier nur eine Vergleichung
auf breiter Basis vorwärtshelfen und die Wissenschaft wird sich
dieser Aufgabe unterziehen dürfen, ohne Goethes Anathem „Dilet-
tanten vergleichen“ fürchten zu müssen; denn die Vergleichung
wird wesentlich dazu führen, die Einzigartigkeit der historischen
Erscheinungen in ihrer Tragweite erkennen zu lassen2.
Es ist nun immer gefährlich, einer so großen Aufgabe in einem
einzelnen Punkte vorgreifen zu wollen. Trotzdem möchten wir
unter dem ausdrücklichen Vorbehalt, daß es sich um eine rein
hypothetische Aufstellung handelt, um einen Hinweis auf einen
möglichen Lösungsversuch, die Frage aufwerfen, ob denn aus dem
Vergleiche der Gesamtstruktur des deutschen und französischen
Lehnrechts schon jetzt auf den locus minoris resistentiae ge-
schlossen werden kann, der das deutsche Lehnrecht so widerstands-
unfähig gegen einen Einbruch von außen her gemacht hat. Und
man könnte etwa folgendes in Erwägung ziehen:
Dem deutschen Lehnrechte des Mittelalters wohnt eine immer
sich verstärkende Tendenz zur Verdinglichung inne3. Das vasal-
litische, persönliche Moment der Treue trat zurück, das dingliche
Recht des Lehnsmanns am Lehnsgut trat immer beherrschender in
den Vordergrund4. So mußte sich allmählich eine Objektivierung,
Verdinglichung der lehnrech blichen Beziehungen ausbilden, der
zufolge dem jeweiligen Lehngut ein unverlierbarer Charakter auf-
gedrückt wurde. Es erschien als dessen „objektive Rechtsqualität“
Lehngut zu sein. Diese Qualität mußte auch in der Hand des
Lehnsherren erhalten bleiben, wenn ihm das Gut heimfiel oder er
es im Prozesse einzog5. Es mußte in seiner Eigentumssphäre einen
1 Wie sehr auch z. B. das Studium des Vertragsrechts durch die ver-
mehrte Berücksichtigung der Klauseln der Lehnsverträge gefördert werden
könnte, möchte ich hier nur andeuten. Für den Begriff der Vertragsverletzung
z. B. ist diese Fundgrube noch längst nicht erschöpft.
2 Vgl. v. Below, Der deutsche Staat im MA.1 333, 2XXV.
3 LIeusler, Deutsche Verf.geschichte 140f.
4 Zum folgenden Gierke, Deutsches Genossenschaftsrecht II, 95ff.;
Fehr, Fürst u. Graf im Ssp., 12ff.; Rosenstock, Königshaus u. Stämme, 159ff.
5 Der umgekehrte Vorgang ist der, daß abgeleitetes Recht in der Hand
des Mannes als Eigentum („Inwärts-Eigen“) erscheint. Vgl. Paul Punt-
schart, ZRG. 43, 66ff.