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Gerhard Ritter:
Stimmung findet man an vielen Stellen, keineswegs nur in der
Wiedergabe feierlicher Reden (wie z. B. der Revokationsformel).
Aber wenn auch für diese Partien eine protokollarische Aufzeich-
nung als gemeinsame Grundlage gedient haben mag, so bot sie doch
offenbar nicht viel mehr als einen losen Anhalt für die Erzählung
der Vorgänge; in wesentlichen Punkten sind beide Erzählungen
unabhängig voneinander und bieten jede für sich eigene Mitteilun-
gen. Auch aus den vertraulich (im Gefängnis) geführten Unter-
handlungen Wesels mit den drei Deputierten, die ihn zum Widerruf
bewegen sollten, berichten beide — unabhängig voneinander — so
lebendig gegebene Details, daß man beide Male glauben könnte,
einen Ohrenzeugen selber zu hören.
Während aber nun die Redaktion B ganz sachlich, knapp und
ohne erkennbare Teilnahme für oder wider den Angeklagten er-
zählt, bietet die Redaktion A ein höchst seltsames Bild. Freilich:
soweit sie chronologisch mit B parallel geht, d. h. von Montag,
den 8. Februar 1479 an (an diesem Tage begannen die Verhöre
Wesels), läßt sich auch hier nicht eine Spur von Parteinahme des
Verfassers erkennen. Im Gegenteil: mit scharf kritischer Wendung
bezeichnet sie gleich zu Anfang Wesels Verteidigungsrede als „un-
nütze Worte“, mit denen er „die Zeit versäumt habe“ (inania verba
dicturus longoque sermone tempora procrastinciturus), während B auch
hier ganz trocken-sachlich berichtet (longo sermone respondere nite-
batur). Wesels Ausflüchte im Verhör werden eher mit verstecktem
Hohn, als mit Wohlwollen erzählt (vgl. Schluß des Dienstags-
verhörs, d’Argentre 297, Spalte 1); und vollends der Bericht
über die vertraulichen Verhandlungen am Mittwoch macht den Ein-
druck, daß der Erzähler von der Schuld des Inkulpaten fest über-
zeugt ist (er spricht von puncta clarissima [seil, erroris]). In höchst
auffallendem Gegensatz zu dieser, einem mittelalterlichen Theo-
logen und Kanonisten selbstverständlichen Haltung aber steht nun
die Einleitung und der Schluß des Berichtes.
Einleitend wird eine Art Vorgeschichte des Prozesses vorauf-
geschickt. Die Erzählung beginnt mit dem Schreiben Erzbischof
Diethers von Mainz an die Kölner und Heidelberger Universität, in
dem er diese zur Beschickung des Ketzergerichts einlud: „a<7 quas
quidem litercis ego N. N. nomine universitatus respondiu. Folgt ein
umständlich genauer, aus intimster Sachkenntnis schöpfender Be-
richt über die Beratungen in Mainz am Freitag, 5. Februar, zu-
nächst der Heidelberger Theologen mit den erzbischöflichen Justiz-
Gerhard Ritter:
Stimmung findet man an vielen Stellen, keineswegs nur in der
Wiedergabe feierlicher Reden (wie z. B. der Revokationsformel).
Aber wenn auch für diese Partien eine protokollarische Aufzeich-
nung als gemeinsame Grundlage gedient haben mag, so bot sie doch
offenbar nicht viel mehr als einen losen Anhalt für die Erzählung
der Vorgänge; in wesentlichen Punkten sind beide Erzählungen
unabhängig voneinander und bieten jede für sich eigene Mitteilun-
gen. Auch aus den vertraulich (im Gefängnis) geführten Unter-
handlungen Wesels mit den drei Deputierten, die ihn zum Widerruf
bewegen sollten, berichten beide — unabhängig voneinander — so
lebendig gegebene Details, daß man beide Male glauben könnte,
einen Ohrenzeugen selber zu hören.
Während aber nun die Redaktion B ganz sachlich, knapp und
ohne erkennbare Teilnahme für oder wider den Angeklagten er-
zählt, bietet die Redaktion A ein höchst seltsames Bild. Freilich:
soweit sie chronologisch mit B parallel geht, d. h. von Montag,
den 8. Februar 1479 an (an diesem Tage begannen die Verhöre
Wesels), läßt sich auch hier nicht eine Spur von Parteinahme des
Verfassers erkennen. Im Gegenteil: mit scharf kritischer Wendung
bezeichnet sie gleich zu Anfang Wesels Verteidigungsrede als „un-
nütze Worte“, mit denen er „die Zeit versäumt habe“ (inania verba
dicturus longoque sermone tempora procrastinciturus), während B auch
hier ganz trocken-sachlich berichtet (longo sermone respondere nite-
batur). Wesels Ausflüchte im Verhör werden eher mit verstecktem
Hohn, als mit Wohlwollen erzählt (vgl. Schluß des Dienstags-
verhörs, d’Argentre 297, Spalte 1); und vollends der Bericht
über die vertraulichen Verhandlungen am Mittwoch macht den Ein-
druck, daß der Erzähler von der Schuld des Inkulpaten fest über-
zeugt ist (er spricht von puncta clarissima [seil, erroris]). In höchst
auffallendem Gegensatz zu dieser, einem mittelalterlichen Theo-
logen und Kanonisten selbstverständlichen Haltung aber steht nun
die Einleitung und der Schluß des Berichtes.
Einleitend wird eine Art Vorgeschichte des Prozesses vorauf-
geschickt. Die Erzählung beginnt mit dem Schreiben Erzbischof
Diethers von Mainz an die Kölner und Heidelberger Universität, in
dem er diese zur Beschickung des Ketzergerichts einlud: „a<7 quas
quidem litercis ego N. N. nomine universitatus respondiu. Folgt ein
umständlich genauer, aus intimster Sachkenntnis schöpfender Be-
richt über die Beratungen in Mainz am Freitag, 5. Februar, zu-
nächst der Heidelberger Theologen mit den erzbischöflichen Justiz-