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Schadewaldt, Wolfgang; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1933/34, 3. Abhandlung): Die Niobe des Aischylos — Heidelberg, 1934

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https://doi.org/10.11588/diglit.40168#0013
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Die Niobe des Aischylos

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und nun schwer durch das Verderben der Nachkommen getroffen
ist’. Hiernach habe ich für 1 die Ergänzung άλλ7 ο]ύδέν’ vorge-
schlagen. Daß Medea ihres Vaters mit Reue, Niobe mit Liebe und
vielleicht in leisem Vorwurf gedenkt, ist ein Unterschied des Ethos,
der durch die verschiedenen Handlungen bedingt ist. Die Über-
einstimmung ist schlagend genug, um zu sichern, daß der Fragment-
beginn sinnvoll und klar verständlich ist, wenn eine dritte Person
wie von Medea so von Niobe berichtet.
Der dritte, entscheidende, Vorstoß läßt sich von den Versen
5—8 führen, wo der Sprecher den Chor mit ορατέ darauf hinweist,
wie Niobe auf dem Grabe der Kinder sitzend im Schmerz ihren Leib
zermartert. Gewiß, wir kennen ein solches 'seht’ auch gerade im
Munde des Betroffenen selbst, der, wie etwa Prometheus, die andern
zu Zeugen seines Leidens aufruft1. Aber dieses μαρτύρεσΕαι tritt voll-
gültig nur da auf, wo jemand von außen Gewalt erleidet oder jeden-
falls sein Leiden als Gewaltakt auffaßt. Dies trifft zwar für Niobes
Unglück, aber nicht für ihren selbstzerstörerischen Schmerz, ihr
Verharren auf dem Grabe usw. zu. Spräche sie hier selber, so müßte
man an einen abgegriffenen Gebrauch des μαρτύρεσΕαι glauben, wie
er vielleicht für die späteren Tragiker, und sicher für Euripides2,
aber kaum für Aischylos annehmbar ist. Aber daß Niobe diese
ganze Partie auf keinen Fall sprechen kann, zeigt, richtig ausge-
wertet, ein einziges Wort, das von Hesych für 7 bezeugte έπώζε<ι>,
über dessen Wiederherstellung als Gegenwartsform oben S. 7
gehandelt wurde. Körte hat mit Recht betont, daß die hier gefor-
derte Bedeutung nur 'brütend hocken’ sein kann3. Er verweist auch
auf Welckers Deutung der Stelle, die ich hier ausschreibe, weil
Welcker die Verse in seiner tiefen Innerlichkeit so überzeugend
nacherlebt hat, daß man sich fast jedes weitere Wort sparen
kann (Aeschyl. Trilogie. 353): „Das Brüten der Niobe auf dem
Grabe . . . gehört zu den einfach, aber gründlich bezeichnenden
Naturbildern, wodurch die Sprache des Aeschylus so sehr ausge-
zeichnet ist. Wie die brütende Henne das Nest nicht verläßt, man
möge sie locken oder reizen, wie sie jede andere Gewohnheit vergißt,
statt alles Gehens und Kommens nur an der einen Stelle klebt, so
1 Prom. 92f. 119. 140 und sonst.
2 Es sei beispielshalber auf IA. 1510 verwiesen, wo der Chor mit dem
typisch βη-Ι'δεσΟ-ε den Beginn des "Paians’ (vgl. 1468) der Iphigenie 1475 wieder-
aufnimmt. 3 Das Bild der brütenden Henne zu vertreiben, fand schon
Wilamowitz, Aisch. Interpr. 57, 1 „unverzeihlich“.
 
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