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Schadewaldt, Wolfgang; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1933/34, 3. Abhandlung): Die Niobe des Aischylos — Heidelberg, 1934

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https://doi.org/10.11588/diglit.40168#0030
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Wolfgang Schadewaldt

Selbsterfahrung, die wir vielfach bei ihm kennen. Es enthüllt die
übermannende Wirkung der Qual, die den Menschen seinem inneren
Beruf zum geselligen Dasein entzieht und in fremde einsame Fernen
reißt. Kennten wir den schweigenden Achill der 'Phryger’ des
Aischylos näher, so würden wir wohl sehen, daß er dem klagenden
und weinenden Achill vom Anfang des Ω der Ilias gegenüber, den
Priamos später nach beendeter Mahlzeit antrifft, eine neue Art
Mensch ist1. In der Niobe läßt uns das Papyrusblatt die Wirkung
dieses regungslosen Schweigens einigermaßen erleben. Der Dichter
hat es gewagt, Niobes Unheil und Verschulden in ihrer Gegenwart
wie in der Gegenwart einer Toten verhandeln zu lassen. Wie
„grausam“ diese Wirkung ist, hat Welcker mit Recht erahnt, nur
daß seine Empfindsamkeit dem Dichter solche Grausamkeit ver-
wehrte2. Wir spüren sie unmittelbar und können von da aus tiefer
nacherleben, wie elementar und notwendig dem Dichter das Bild
der empfindungslos harrenden und schweigenden Niobe aus dem
Mythos entgegengewachsen war. Das Schweigen der Niobe ist
elementar wie das Schweigen der Kassandra, nur in anderer Weise.
Es ist das schweigende Kranken des Muttertieres, dem die Jungen
gemordet sind. Es ist der Verzicht auf das Dasein, dem Tode ver-
wandt. Es ist die tiefe Sprache des Schmerzes, der fühllos macht
und versteint. Man kann es im Schaffen der großen Tragiker
beobachten, wie sie aus dem bloß faktisch in der Sage Gegebenen
die plastische Seelenhaltung der neuen dramatischen Personen sinn-
gemäß herausspinnen: durch ein einfaches und großes Ernstnehmen
der mythischen Fakten gewinnen sie aus der Tat den Willen, aus
dem Leiden das dazustimmende Ethos. Mit unerhörter Griffsicher-
heit hat so auch Aischylos das Schweigen der Niobe aus dem in
ihrem Mythos gegebenen Schicksal der Versteinung entwickelt und
mit allerdings grausamer Härte und Folgerechtheit von Szene zu
Szene festgehalten. -
Wenigstens mittelbar hat unser Papyrusblatt endlich etwas zu
der entscheidenden Frage zu sagen, wie Niobe nach dem Bruch des
Schweigens sich zu ihrem Schicksal stellte. Welcker und Her-
1 Soviel geht wenigstens ans Hermanns Skizze der Trilogie hervor:
Opuscula V 1834, 136, bes. 156ff.
2 Welcker 352: ,,.. .nur müßte diese Meldung entfernt genug von dem
Grabe der Kinder seyn, weil es sonst grausam wäre, auch die wie empfindungs-
los schweigende Mutter eine nackte Schilderung der Szene nach Botenart mit
anhören zu lassen, während vom Chor die Sache so behandelt werden konnte,
daß die Hörer ein Bild erhielten und zugleich die Mutter aufgerichtet wurde.“—
 
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