102 G. Hölscher: Die Anfänge der hebräischen Geschichtsschreibung
lebendig empfundenen jüngsten Vergangenheit. Daß diese Ver-
gangenheit oft weit nach rückwärts, ja bis zur Erschaffung der
Welt und zum Anfang des Menschengeschlechtes ausgedehnt wird,
widerlegt diesen Satz nicht, denn regelmäßig bleibt die Zeitgeschichte
die Hauptsache, nimmt die Darstellung an Ausführlichkeit zu, je
mehr sie sich der Zeit des Darstellers nähert1. So ist auch das Werk
des J in erster Linie eine Geschichte der in der Erinnerung noch
lebendigen und auf die Gegenwart fortwirkenden Zeit Davids und
Salomos. Und wie bei den Griechen die Geschichtsschreibung aus
den Freiheitskriegen gegen die Perser erwachsen ist, so bei den
Israeliten aus dem siegreichen Kampf gegen die Philister und der
Überwindung der kanaanäischen Städte im Lande. Aber ähnlich
wie dort aus den Wirren der Gegenwart erst allmählich, erst in
der Zeit des Perikies das Bild der Vergangenheit wiederauftauchen
konnte, so ist auch in Israel das bleibende Bild der großen Zeit
erst nach mehreren Generationen geschaffen worden, als nach dem
Zerfall des Beiches das Bild der Vergangenheit und der damals
errungenen nationalen Einheit von neuem lebendig wurde. Diese
nationale Idee der Einheit des Volkes unter der Führung Judas
ist, wie gezeigt, die Leitidee des jahvistischen Werkes, die das Bild
der Vorzeit geformt hat. Die im davidischen Staate verwirklichte
Einheit der zwölf Stämme wird bis in die Zeit des ägyptischen
Aufenthaltes und weiter bis in die Sagengeschichte, d. h. bis in
die Uranfänge des Volkes zurückgetragen. Als nationale Idee aber
erhält sie ihren Akzent durch den Gegensatz des eigenen Volks-
tums gegen das unterworfene Kanaanitertum, und wie dieser Gegen-
satz zugleich ein religiöser ist, so ist auch die Gesamtanschauung
des J vom geschichtlichen Geschehen nur aus ihrer religiösen Wurzel
zu verstehen.
Der Gegensatz gegen die Beligion der Kanaaniter hat der Re-
ligion Israels ihre Ausprägung gegeben. Nach jahrhundertelanger
Assimilation an kanaanäische Kultur und Religion setzt mit der
Entstehung des selbständigen israelitischen Staates und dem Er-
wachen nationalen Bewußtseins eine Reaktion gegen die wesens-
fremden Elemente kanaanäischer Religion, gegen ihre Kultmagie
und ihren entwickelten Polytheismus ein; die altererbte Art des
hebräischen Nomadentums bricht elementar wieder durch. Die
1 Ed. Schwartz,Geschichtsschreibung und Geschichte bei den Hellenen,
in: Die Antike IV, 1928, S. 14.
lebendig empfundenen jüngsten Vergangenheit. Daß diese Ver-
gangenheit oft weit nach rückwärts, ja bis zur Erschaffung der
Welt und zum Anfang des Menschengeschlechtes ausgedehnt wird,
widerlegt diesen Satz nicht, denn regelmäßig bleibt die Zeitgeschichte
die Hauptsache, nimmt die Darstellung an Ausführlichkeit zu, je
mehr sie sich der Zeit des Darstellers nähert1. So ist auch das Werk
des J in erster Linie eine Geschichte der in der Erinnerung noch
lebendigen und auf die Gegenwart fortwirkenden Zeit Davids und
Salomos. Und wie bei den Griechen die Geschichtsschreibung aus
den Freiheitskriegen gegen die Perser erwachsen ist, so bei den
Israeliten aus dem siegreichen Kampf gegen die Philister und der
Überwindung der kanaanäischen Städte im Lande. Aber ähnlich
wie dort aus den Wirren der Gegenwart erst allmählich, erst in
der Zeit des Perikies das Bild der Vergangenheit wiederauftauchen
konnte, so ist auch in Israel das bleibende Bild der großen Zeit
erst nach mehreren Generationen geschaffen worden, als nach dem
Zerfall des Beiches das Bild der Vergangenheit und der damals
errungenen nationalen Einheit von neuem lebendig wurde. Diese
nationale Idee der Einheit des Volkes unter der Führung Judas
ist, wie gezeigt, die Leitidee des jahvistischen Werkes, die das Bild
der Vorzeit geformt hat. Die im davidischen Staate verwirklichte
Einheit der zwölf Stämme wird bis in die Zeit des ägyptischen
Aufenthaltes und weiter bis in die Sagengeschichte, d. h. bis in
die Uranfänge des Volkes zurückgetragen. Als nationale Idee aber
erhält sie ihren Akzent durch den Gegensatz des eigenen Volks-
tums gegen das unterworfene Kanaanitertum, und wie dieser Gegen-
satz zugleich ein religiöser ist, so ist auch die Gesamtanschauung
des J vom geschichtlichen Geschehen nur aus ihrer religiösen Wurzel
zu verstehen.
Der Gegensatz gegen die Beligion der Kanaaniter hat der Re-
ligion Israels ihre Ausprägung gegeben. Nach jahrhundertelanger
Assimilation an kanaanäische Kultur und Religion setzt mit der
Entstehung des selbständigen israelitischen Staates und dem Er-
wachen nationalen Bewußtseins eine Reaktion gegen die wesens-
fremden Elemente kanaanäischer Religion, gegen ihre Kultmagie
und ihren entwickelten Polytheismus ein; die altererbte Art des
hebräischen Nomadentums bricht elementar wieder durch. Die
1 Ed. Schwartz,Geschichtsschreibung und Geschichte bei den Hellenen,
in: Die Antike IV, 1928, S. 14.