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Uvo Hölscher
archaischen Texten, nach modernen Begriffen zu bestimmen. Etwas anderes
ist es, wenn der Versuch gemacht werden soll, das geschichtliche Verständnis
von sein zu verstehen. Ein solcher Versuch fordert die Voraussetzung, daß
die platonischen Schlüsse für Platon schlüssig gewesen sind. Aber hier
kommt ein Zweites hinzu. Was man als den Irrtum des Parmenides erkannt
zu haben glaubt, die Verwechslung des prädikativen mit dem existentialen
Sein, das mag man — weil im Sophistes doch der Satz des Parmenides
kritisiert wird — dem Platon nicht zutrauen. Was der heutige Leser, beim
Lesen des betreffenden Abschnitts, zuerst leisten muß, ist ja, sich durch die
verschlungenen Wege der Beweisführung bis zu ihren paradoxen Enden
hindurchzufinden, und er bemerkt alsbald, daß, nach den Unterscheidungen
der neuzeitlichen Logik, ganz verschiedene Gebräuche des Wortes sein
vorliegen. Die platonischen «Trugschlüsse» lassen sich durch Analyse der
Argumente nach den Bedeutungen von sein leicht auflösen. Und also folgert
man, daß die paradoxen Schlüsse, auf die er seine Argumente hinausführt —
daß jeweils etwas ist und nicht ist — auf einen Fehler in den Prämissen
hinweisen sollen. Das ist aber nicht der Fall. Aus den paradoxen Resultaten
werden keine derlei negativen Rückschlüsse, ja überhaupt keine weiteren
Schlüsse gezogen; sondern sie selber sind das Ergebnis, welches 256 d 11
formuliert wird: «es ist also notwendig das Nicht-seiende, sowohl bei der
Bewegung wie bei allen übrigen Gattungen».
Leicht also kann Ackrill nachweisen, daß dem widersprüchlich scheinenden
Satz 256 a 10 ff. την κινησιν ταύτον τ’ είναι και μη ταύτον zwei verschiedene
Bedeutungen von έστιν zu Grunde liegen: im zweiten Fall (in der Negation)
die identifizierende, im ersten die kopulative. Das ist zwar richtig; dieselbe
Zweideutigkeit steckt z. B. auch in dem bald folgenden Satz ούχ έτερον
άρ’ έστι πη και έτερον (256 c 8). Aber Platon weist mit keinem Wort auf
diesen Unterschied in der Bedeutung von έστι hin; seine Antwort ist: die
Unterscheidung zweier verschiedener Teilhaben, am Selbigen und am Ver-
schiedenen. Um das είναι geht es ihm gar nicht — das denn auch in der
Erklärung (all ff.) nicht wieder vorkommt — sondern um das Verstehen
des Nichtseienden als des Verschiedenen, ή ύστερου φυσις (256 d 12). Hätte
er die unterschiedlichen Bedeutungen von sein auch nur entfernt im Auge,
würde der ganze Rekurs auf das έτερον zusammenbrechen.
Dasselbe gilt aber auch von dem existentialen sein. Daß Platon — nach
der landläufigen Meinung — die existentiale Bedeutung von der prädikativen
unterschieden habe, wird vor allem aus 255 e 11 ff. entnommen. Tatsächlich
folgt hier έστιν dreimal kurz hintereinander in dreierlei Bedeutung:
Bewegung ist verschieden von Ruhe (kopulativ);
also ist sie nicht Ruhe (identifikativ);
jedoch sie ist durch Teilhabe am Seienden.
Das letztere scheint den «absoluten» Gebrauch von sein zu implizieren und
wird dementsprechend als Existenzaussage verstanden; wofür man sich auf
Uvo Hölscher
archaischen Texten, nach modernen Begriffen zu bestimmen. Etwas anderes
ist es, wenn der Versuch gemacht werden soll, das geschichtliche Verständnis
von sein zu verstehen. Ein solcher Versuch fordert die Voraussetzung, daß
die platonischen Schlüsse für Platon schlüssig gewesen sind. Aber hier
kommt ein Zweites hinzu. Was man als den Irrtum des Parmenides erkannt
zu haben glaubt, die Verwechslung des prädikativen mit dem existentialen
Sein, das mag man — weil im Sophistes doch der Satz des Parmenides
kritisiert wird — dem Platon nicht zutrauen. Was der heutige Leser, beim
Lesen des betreffenden Abschnitts, zuerst leisten muß, ist ja, sich durch die
verschlungenen Wege der Beweisführung bis zu ihren paradoxen Enden
hindurchzufinden, und er bemerkt alsbald, daß, nach den Unterscheidungen
der neuzeitlichen Logik, ganz verschiedene Gebräuche des Wortes sein
vorliegen. Die platonischen «Trugschlüsse» lassen sich durch Analyse der
Argumente nach den Bedeutungen von sein leicht auflösen. Und also folgert
man, daß die paradoxen Schlüsse, auf die er seine Argumente hinausführt —
daß jeweils etwas ist und nicht ist — auf einen Fehler in den Prämissen
hinweisen sollen. Das ist aber nicht der Fall. Aus den paradoxen Resultaten
werden keine derlei negativen Rückschlüsse, ja überhaupt keine weiteren
Schlüsse gezogen; sondern sie selber sind das Ergebnis, welches 256 d 11
formuliert wird: «es ist also notwendig das Nicht-seiende, sowohl bei der
Bewegung wie bei allen übrigen Gattungen».
Leicht also kann Ackrill nachweisen, daß dem widersprüchlich scheinenden
Satz 256 a 10 ff. την κινησιν ταύτον τ’ είναι και μη ταύτον zwei verschiedene
Bedeutungen von έστιν zu Grunde liegen: im zweiten Fall (in der Negation)
die identifizierende, im ersten die kopulative. Das ist zwar richtig; dieselbe
Zweideutigkeit steckt z. B. auch in dem bald folgenden Satz ούχ έτερον
άρ’ έστι πη και έτερον (256 c 8). Aber Platon weist mit keinem Wort auf
diesen Unterschied in der Bedeutung von έστι hin; seine Antwort ist: die
Unterscheidung zweier verschiedener Teilhaben, am Selbigen und am Ver-
schiedenen. Um das είναι geht es ihm gar nicht — das denn auch in der
Erklärung (all ff.) nicht wieder vorkommt — sondern um das Verstehen
des Nichtseienden als des Verschiedenen, ή ύστερου φυσις (256 d 12). Hätte
er die unterschiedlichen Bedeutungen von sein auch nur entfernt im Auge,
würde der ganze Rekurs auf das έτερον zusammenbrechen.
Dasselbe gilt aber auch von dem existentialen sein. Daß Platon — nach
der landläufigen Meinung — die existentiale Bedeutung von der prädikativen
unterschieden habe, wird vor allem aus 255 e 11 ff. entnommen. Tatsächlich
folgt hier έστιν dreimal kurz hintereinander in dreierlei Bedeutung:
Bewegung ist verschieden von Ruhe (kopulativ);
also ist sie nicht Ruhe (identifikativ);
jedoch sie ist durch Teilhabe am Seienden.
Das letztere scheint den «absoluten» Gebrauch von sein zu implizieren und
wird dementsprechend als Existenzaussage verstanden; wofür man sich auf