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Uvo Hölscher
Verwendung von είναι. Trotzdem bin ich nicht sicher, ob wir es dort mit
einem Sprachzustand zu tun haben, der als repräsentativ für etwas Ur-
sprüngliches gelten darf: auch die epische Sprache ist schon das hochver-
feinerte Resultat einer vielleicht tausend Jahre alten Sprachgeschichte. Dabei
kann gar nicht bestritten werden, daß die kopulative Verwendung sich schon
in unvordenklichen Frühzeiten ausgebildet haben muß. Die Theorie jedoch,
die die Kopula in den Mittelpunkt der Bedeutung stellt — statt der existen-
tialen — kann nach meiner Darlegung auch nicht die richtige Alternative
sein. Das Verständnis von sein, das zunehmend auf den Begriff eines ein-
fachen Seins der Prädikation geführt hat, deutet auf einen ursprünglichen
Sinn, der mit den genannten Begriffen noch nicht gefaßt ist.
Mit dem Erschließen von Urbedeutungen begibt man sich freilich, auf den
Boden der Spekulation. Die Annahme der kopulativen Grundbedeutung muß
mit einem ursprünglichen Bedürfnis der Sprache rechnen, die Zugehörigkeit
einer Vorstellung zur anderen auszudrücken (der Pilz ist eßbar). Nimmt man
die Existenz für das Ursprüngliche, so rechnet man mit einem ebensolchen
Bedürfnis, ursprünglich das Vorhandensein einer Sache auszudrücken, und
zwar als ein dem eigenen Dasein Analoges: dem Ich bin als dem primären
Akt des Subjekts. Der Übergang vom einen zum anderen — von der Existenz
zur Kopula oder umgekehrt — bleibt immer schwer zu erklären, und schon
sucht man Auskunft in einer ursprünglichen Vielfalt der Bedeutungen.
Und doch liegt die Lösung auf der Hand. Wenn man dem "Werden der
kindlichen Sprache folgt, so wird man eher als auf diese Figuren auf die
Äußerung des Erkennens stoßen. Zunächst die bloßen Ausrufe: Papa, Hund.
Θαλαττα, Ό-αλαττα war der Ruf des Erkennens. Bleibt solches Nennen des
Namens noch auf der Stufe des bloßen Reflexes, so ist das hinzugesagte
Sein bereits der Ausdruck einer Reflexion: «das ist das Meer!» Dies «gnori-
stische» ist kennen wir aus dem gewöhnlichen Sprachgebrauch, doch hat es,
so weit ich sehe, bislang keinen Namen. «Est — est — est» schrieb der Diener
des Augsburger Domherren an die Tür der Taverne, wo er den richtigen
Wein gefunden hatte. «Da ist ja meine Mama», rief ein Kind beim unver-
hofften Wiedersehen nach langer Trennung. Es ist gänzlich unmöglich, dies
ist als existentiales oder als lokativ-kopulatives zu rubrizieren. «Veritativ»
könnte ich es nennen, wenn das Wort nicht für die Wahrheit von Tatsachen
geprägt wäre. «Identifizierend» dürfte es heißen, wenn dieser Begriff in
unserer Logik nicht auf das Zeichen der Gleichung einer Zweiheit festgelegt
wäre. Tatsächlich ist es der reine und einfache Ausdruck des Erkennens eines
Gegenstandes. «Frühling, ja du bist’s!» Und nicht das Sagen des einfachen
είμι war der primäre Akt des Subjekts, wohl aber: είμ’ Όδυσευς Λαερτιαδης,
mit dem er sich zu erkennen gab.
Der Einwand, daß in solchen Sätzen in Wahrheit schon die Zweiheit von
Subjekt und Prädikat, und damit das ist als ein kopulatives gesetzt sei,
wird uns nicht mehr verwirren. Sie sind die einfache Antwort auf das
aristotelische Τι έστιν; — schwerlich waren sich die Sprecher dieser Frage
Uvo Hölscher
Verwendung von είναι. Trotzdem bin ich nicht sicher, ob wir es dort mit
einem Sprachzustand zu tun haben, der als repräsentativ für etwas Ur-
sprüngliches gelten darf: auch die epische Sprache ist schon das hochver-
feinerte Resultat einer vielleicht tausend Jahre alten Sprachgeschichte. Dabei
kann gar nicht bestritten werden, daß die kopulative Verwendung sich schon
in unvordenklichen Frühzeiten ausgebildet haben muß. Die Theorie jedoch,
die die Kopula in den Mittelpunkt der Bedeutung stellt — statt der existen-
tialen — kann nach meiner Darlegung auch nicht die richtige Alternative
sein. Das Verständnis von sein, das zunehmend auf den Begriff eines ein-
fachen Seins der Prädikation geführt hat, deutet auf einen ursprünglichen
Sinn, der mit den genannten Begriffen noch nicht gefaßt ist.
Mit dem Erschließen von Urbedeutungen begibt man sich freilich, auf den
Boden der Spekulation. Die Annahme der kopulativen Grundbedeutung muß
mit einem ursprünglichen Bedürfnis der Sprache rechnen, die Zugehörigkeit
einer Vorstellung zur anderen auszudrücken (der Pilz ist eßbar). Nimmt man
die Existenz für das Ursprüngliche, so rechnet man mit einem ebensolchen
Bedürfnis, ursprünglich das Vorhandensein einer Sache auszudrücken, und
zwar als ein dem eigenen Dasein Analoges: dem Ich bin als dem primären
Akt des Subjekts. Der Übergang vom einen zum anderen — von der Existenz
zur Kopula oder umgekehrt — bleibt immer schwer zu erklären, und schon
sucht man Auskunft in einer ursprünglichen Vielfalt der Bedeutungen.
Und doch liegt die Lösung auf der Hand. Wenn man dem "Werden der
kindlichen Sprache folgt, so wird man eher als auf diese Figuren auf die
Äußerung des Erkennens stoßen. Zunächst die bloßen Ausrufe: Papa, Hund.
Θαλαττα, Ό-αλαττα war der Ruf des Erkennens. Bleibt solches Nennen des
Namens noch auf der Stufe des bloßen Reflexes, so ist das hinzugesagte
Sein bereits der Ausdruck einer Reflexion: «das ist das Meer!» Dies «gnori-
stische» ist kennen wir aus dem gewöhnlichen Sprachgebrauch, doch hat es,
so weit ich sehe, bislang keinen Namen. «Est — est — est» schrieb der Diener
des Augsburger Domherren an die Tür der Taverne, wo er den richtigen
Wein gefunden hatte. «Da ist ja meine Mama», rief ein Kind beim unver-
hofften Wiedersehen nach langer Trennung. Es ist gänzlich unmöglich, dies
ist als existentiales oder als lokativ-kopulatives zu rubrizieren. «Veritativ»
könnte ich es nennen, wenn das Wort nicht für die Wahrheit von Tatsachen
geprägt wäre. «Identifizierend» dürfte es heißen, wenn dieser Begriff in
unserer Logik nicht auf das Zeichen der Gleichung einer Zweiheit festgelegt
wäre. Tatsächlich ist es der reine und einfache Ausdruck des Erkennens eines
Gegenstandes. «Frühling, ja du bist’s!» Und nicht das Sagen des einfachen
είμι war der primäre Akt des Subjekts, wohl aber: είμ’ Όδυσευς Λαερτιαδης,
mit dem er sich zu erkennen gab.
Der Einwand, daß in solchen Sätzen in Wahrheit schon die Zweiheit von
Subjekt und Prädikat, und damit das ist als ein kopulatives gesetzt sei,
wird uns nicht mehr verwirren. Sie sind die einfache Antwort auf das
aristotelische Τι έστιν; — schwerlich waren sich die Sprecher dieser Frage