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Dihle, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1977, 5. Abhandlung): Euripides' Medea: vorgetragen am 20. November 1976 — Heidelberg: Winter, 1977

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https://doi.org/10.11588/diglit.45466#0007
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Rezeptionsgeschichte, Fortwirken der griechischen Dichtung in der
europäischen Literatur, Bewahrung und Transformation im Rahmen des
großen kulturgeschichtlichen Zusammenhangs, der unsere eigene Zeit
mit Aischylos und Homer verbindet - das alles ist gerade während der
letzten Dezennien in den Vordergrund des gelehrten Interesses gerückt.
Ganz besonders gilt das für Wandlung und Fortleben der großen Ge-
stalten des attischen Dramas auf der europäischen Bühne. Ich erinnere
nur, um ein Beispiel zu nennen, an die Sammlung bedeutender Einzel-
beiträge zu diesem Thema, die Kurt v. Fritz unter dem Titel „Antike
und moderne Tragödie“ veröffentlichte1. Was speziell die Medea an-
geht, so hat die von Euripides geschaffene tragische Gestalt in zwei Jahr-
tausenden europäischer Bühnendichtung von Ovid und Seneca bis
Grillparzer und Anouilh eine besonders reiche Fülle von Metamorpho-
sen erlebt. In den ca. drei Dutzend Medea-Dramen der europäischen
Literatur wurde die Tat der Mutter, die ihre Kinder tötet, um den unge-
treuen Gatten zu bestrafen, auf immer wieder neue Weise motiviert. An
einer Auswahl aus den Medea-Dramen der europäischen Literatur hat
W. H. Friedrich2 vor einigen Jahren mit großer Meisterschaft gezeigt,
daß man sie, unbeschadet ihrer jeweils eigenen Qualität, wie Kommen-
tare zu der großen Tragödie des Euripides lesen kann. Fast jeder spezi-
fische Zug in ihren Handlungsabläufen läßt sich als ausdrücklich ver-
schmähte, stillschweigend übergangene oder als unentdeckt gebliebene
Möglichkeit zum Aufbau des euripideischen Dramas in Beziehung
setzen. Nicht selten vermittelt überhaupt erst die genaue Lektüre eines
nacheuripideischen Dramas Einsicht in spezifische Vorzüge, Schwächen
oder Eigenheiten des euripideischen Originals. Der scharfe Blick des
produktiven Theaterdichters - bezeichnenderweise haben sich die
Medea-Stücke Corneilles und Grillparzers in dieser Hinsicht als be-
sonders ergiebig erwiesen - entdeckt in der Regel eine größere Zahl un-
verwirklichter Möglichkeiten dramatischer Gestaltung in einer gegebe-
nen Vorlage, als es dem Philologen gelingen will. Jede Interpretation,
die zum Verständnis spezifischer Merkmale des zu erklärenden Textes
führen soll, ist auf den Vergleich mit Varianten angewiesen, auf den Ver-
gleich mit den Formulierungen oder Strukturelementen, die der Text
gerade nicht bietet. Bei diesem Geschäft werden wir Philologen immer
wieder durch unsere Ausbildung behindert, die unserer Phantasie Zügel
anlegt und uns - streng aber gerecht - anweist, nur Dinge in Betracht
 
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